Meine Kinder gehen zu einer Tagesmutter. Den Weg dorthin machen wir immer zu Fuß. Bubba Ray nimmt dann sein kleines Laufrad, D-Von sitzt gemütlich im Buggy und sieht ihm beim Fahren zu.
An immer der gleichen Stelle möchte Bubba, dass ich sein Laufrad ein paar Stufen hinauf trage. Er kann dann über eine Anhöhe, etwas entfernt von mir, an einem Haus entlang und einen kleinen Berg hinab sausen. Und an immer genau dieser Stelle betrachte ich mich von oben. Vielleicht, weil mich der kleine Berg symbolisch dazu auffordert, vielleicht aber auch, weil ich so oft so vollkommen unterschiedlich reagiere.
Wenn ich also da so in den Wolken hänge und mich selbst von oben betrachte, dann sehe ich an vielen guten, sonnigen Morgenden eine liebevolle, gutgelaunte Mutter, die ihrem Kind wohlwollend das Laufrad die Stufen hinauf trägt und entspannt lächelt, als es den Berg hinab düst. Sie wirkt gelassen und zufrieden, schiebt den Buggy ihres ruhigen, beobachtenden Sohnes und holt ihren kleinen Raser am anderen Ende wieder ab. Dann überqueren sie gemeinsam die Straße, kurz nachdem sie ihn noch einmal gestoppt und zum aufmerksamen nach-links-und-rechts-schauen aufgefordert hat. Kurz darauf flattere ich dann hinab in meinen Körper, bin wieder da und bei mir.
Manchmal hänge ich auch da oben, in diesen Wolken, beobachte mich selber und schlage die Hände über dem Kopf zusammen. Denn ich sehe nichts von Gelassen- oder Zufriedenheit. Ich sehe keine liebevolle Begleitung und auch keine Entspannung. Stattdessen stampft eine entnervte Frau die Treppen zur Anhöhe hinauf und legt das Laufrad im Gras ab, ohne sich noch einmal zu ihrem Jungen umzusehen. Sie poltert die Stufen wieder hinunter, denn da unten schreit schon das andere Kind im Buggy. „Halt an der Straße an und ras‘ nicht so!“, brüllt sie über die Distanz, als ihr Junge den gleichen Weg fährt, wie immer. An der Straße diskutiert sie nicht lang, legt ihrem Kind eine Hand an die Schulter und ranzt „Warte!“ in seine Richtung.
Die gleichen Kinder. Der gleiche Weg. Die gleiche Frau.
Doch an einem Morgen bin ich entspannt und gelassen, genieße den Weg und meine Kinder und am anderen nicht. Wo liegt der Unterschied?
Während ich das Laufrad die Treppen hinauf schleppe, weint D-Von in seinem Buggy. Ich habe keine Ahnung, was er hat, aber ich will, dass es aufhört. Er weint schon den ganzen Morgen und ich will eigentlich nur, dass es aufhört. Bubba Ray ließ sich wieder 20 Minuten nicht anziehen, es war alles ein einziger Kampf. Schon vor acht Uhr morgens habe ich herum gebrüllt und mich parallel die ganze Zeit gefragt, was wohl die Nachbarn von mir denken müssen. Wir sind wieder zu spät los (was meint die Tagesmutter wohl, wieso ich zu doof bin das hinzubekommen?) und ich wollte mit dem Auto fahren, was Bubba Ray natürlich – wen wundert es – rigoros verweigerte. Jetzt ist es kurz vor 9, ich habe nicht gefrühstückt, wir kommen wieder auf den letzten Drücker und ey GANZ EHRLICH! WIESO KANN HIER EIGENTLICH NICHT EIN EINZIGES MAL WAS FUNKTIONIEREN?
Denn es ist natürlich nicht das erste Mal, dass wir auf den letzten Drücker kommen, dass das Anziehen, Zähneputzen und Waschen nur mit langen und umfassenden Diskussionen klappte und D-Von ZähneSchubPhaseBauchwehSchlechteLauneFurzQuerKeinBock hat. Es ist auch nicht das erste Mal, dass sich meine Laune daraufhin innerhalb der Kürze der Zeit so drastisch verschlechtert, dass ich nur noch im Motz-Ton mit meinen Kindern spreche. Und das Abliefern gleich erst. Sicher wird Bubba Ray wieder weinen. Und D-Von auch. Und überhaupt: wieso bleibt eigentlich immer alles an mir hängen? Das funktioniert so nicht.
Es funktioniert nicht!
Frust, Stress und Überreizung, vor allem wenn all diese Dinge gleich am frühen Morgen der Fall sind, führen grundsätzlich immer dazu, dass ich wütend und aggressiv werde. Ich will nicht sagen, dass ich nichts dafür kann, denn das ist nicht so. Ich trage dafür die Verantwortung und selbstverständlich auch die Entscheidung darüber, diesen Zustand zu akzeptieren oder zu verändern. Was aber zweifelsohne relativ ungesteuert passiert, ist mein Gehirn, das auf das Gelernte zurückgreift und quasi automatisch die Handlungen abfeuert, die es in sehr früher Kindheit von den Hauptbindungspersonen so „abgeguckt“ hat. Und dafür können wir alle nun mal wirklich nichts. So stehe ich also morgens, wenn ich wieder nicht habe frühstücken können und mein zweiter Kaffee kalt wurde, da und schnauze meine Kinder an, die genau so wenig dafür können, aber der Grund dafür sind, dass nichts funktioniert. Zumindest rede ich mir das ein.
Denn der wahre Grund, weshalb mein Vormittag, meine Mutterschaft, meine Elternschaft, meine Erziehung, das Anziehen, Zähneputzen, Frühstücken und alles andere drumherum gerade nicht funktioniert, ist, weil ich den Anspruch daran habe, dass es funktionieren soll.
Die Wahrheit ist, dass Familienleben nicht funktioniert. Nie. Nicht im klassischen Wortsinn, zumindest. Es greifen Abläufe ineinander, die Familienmitglieder spielen als Team, machen Kompromisse, kooperieren, sprechen sich ab, teilen auf und nehmen Rücksicht. Dabei gehen manche Dinge leicht von der Hand, während andere ein wahnsinnig großes Thema werden. Manche Bedürfnisse sind stärker als andere, manche nehmen Überhand, weil andere dafür völlig vergessen wurden. Aber funktionieren? Schon allein der Anspruch daran, dass Familie funktioniert, kann nur ein Scheitern bedeuten.
Dinge können funktionieren: meine Kaffeemaschine, beispielsweise. Und Abläufe: Papa bereitet die Brotdose vor und zieht ein Kind an, sodass ich mich „nur“ noch um eines kümmern muss. Und fällt die Funktion aus, dann ist Frust sogar berechtigt! Doch Menschen, ihre Gefühle und Handlungen und ihre Wünsche – all das ist nicht starr. Es sind bewegliche, flexible Mechanismen in einem großen Konstrukt, das unberechenbar ist. Genau so, wie meine eigene Erwartungshaltung und mein eigener Anspruch unsere Morgende manchmal torpediert, sind es die Empfindungen und Wünsche meiner Kinder, die sich in exakt dieser Situation vielleicht gerade nicht mit dem Tagesablauf vereinbaren lassen.
An einem der beiden oben beschriebenen Morgende kann ich meine Erwartungshaltung an die Funktionstüchtigkeit meiner Kinder und „Erziehung“ ablegen, am anderen nicht. Ratet mal.
Der Schutz vorm nicht-funktionieren: weg mit der Erwartungshaltung
Ist das absolute Ausreizen der spätesten Bring-Zeit zur Tagesmutter denn wirklich so schlimm, dass man die zwei vorhergehenden Stunden unter der eigenen Erwartungshaltung, heute endlich mal nicht die Letzten zu sein, leiden muss?
Sind die Sorgen darüber, was andere von dir denken könnten, wenn du schon wieder absagst und deine Kinder lieber ungestresst mit auf den Spielplatz nimmst, denn wirklich berechtigt?
Und: kommt ihr, in eurer Beziehung und an diesem Morgen, wirklich voran, wenn du schimpfst, das Laufrad ins Gras wirfst und meckerst, anstatt dich hinzuknien und mit deinem Kind einen Deal zu machen?
Die Morgende, an denen mich der Anspruch an mich selbst, pünktlich, perfekt und strukturiert zu sein, nicht quält – zum Beispiel, weil ich die Frage nach dem „Was denkt die nur über mich?“ gut ausblenden kann oder bereits im Vorfeld abgesprochen habe, dass wir wirklich sehr spät kommen werden – sind die, an denen ich auf dem Spaziergang zur Tagesmutter am Wegesrand anhalten und gemeinsam mit meinen Kindern den Löwenzahn betrachten kann. Es sind die Morgende, an denen ich nicht voraussetze, dass ich meinen Kaffee heiß trinke – lauwarm ist doch auch okay! Die Momente, in denen ich mit meiner Kaffeetasse noch mal fünf Minuten auf den Balkon gehe, wenn Bubba Ray sich mal wieder nicht anfassen und anziehen lässt. In denen ich innerlich nicke und „So what?!“ denke. Anspruch? Erwartung? Nix da. Nicht mit mir.
Denn eigentlich ist eine Sache ganz klar: es funktioniert nur dann, wenn es nicht funktionieren muss.
Wenn keiner Perfektion und Struktur voraussetzt, wenn Pünktlichkeit und Anpassung an äußere Umstände nicht die Übermacht bekommen. Plötzlich fällt es uns nicht mehr schwer, so das Haus zu verlassen, dass wir ziemlich spät, aber nicht ZU spät kommen. Das Laufrad trage ich die Stufen hoch, weil diese 20 Sekunden rational betrachtet wirklich überhaupt keinen Unterschied machen. Und D-Von’s Weinen ist weiterhin anstrengend und kräftezehrend aber ey: die Sonne scheint. Schau mal Dee, eine Blume…
Freiheit statt Funktion
I choose freedom – jedenfalls würde ich das gern. Immer. Auch ich kann nicht aus meiner eigenen Haut und auch ich empfinde meinen anhaltenden Kampf gegen mich und meine inneren Glaubenssätze selbst manchmal unfassbar schwer. Ich wünschte mir ehrlich Freiheit, also das wirklich innere Gefühl, dass es wirklich egal ist, ob wir morgens die letzten sind oder ob ich mir nur lange genug mit Meditation und Mantra eingeredet habe, dass es das ist. Die Wahrheit aber ist, dass mit dem Anspruch an funktionierende (aka gehorsame, artige, brave) Kinder auch viel Stress verflogen ist.
Und noch eine Wahrheit zum Abschluss: die Morgende, an denen ich die Tagesmutter gleich nach dem Aufstehen frage, wann wir allerspätestens da sein sollen, um ihre Abläufe nicht zu torpedieren, sind die, an denen wir überpünktlich sind. Und noch pfeifend ankommen.
Es sind die Tage, an denen meine Kinder sich bereits morgens frei entfalten und die Welt ein kleines Stück erkunden konnten und der erste Teil Kooperation, der beim Abliefern gefordert wird, für sie plötzlich kein Problem ist.
Es sind die Morgende, an denen – wenn man so will – „es“ bei uns wahrhaftig „funktioniert“.
14 Antworten
Ich kann das ja alles so gut nachempfinden, was Du schreibst! Nur: Im Bekanntenkreis höre ich oft, dass es bei ihnen funktioniere. Mit klaren Regeln. Wenn sich das Kind nicht dran hält, hat es Pech gehabt. Und so wie ich es als Außenstehende bewerten kann, hören und benehmen sich diese Kinder wirklich gut. Das sind dann solche Momente, in denen ich dann doch zweifele… Ist das Ergebnis nicht das Entscheidende? Deren Kinder sind morgens pünktlich fertig. Deren Kinder liegen abends pünktlich im Bett. Deren Kinder essen wirklich nur einmal am Tag eine einzige Süßigkeit… Ist es wirklich so, dass diese Kinder, wenn sie mal erwachsen sind, ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern haben bzw. evtl. sogar psychische Schäden davon tragen?!? Ich würde da gerne in die Zukunft blicken…
Liebe Leni,
vielen Dank für deinen Kommentar und deinen Besuch hier 🙂
Du hast absolut Recht: Erziehung funktioniert. Absolut immer. Familie aber nicht 😉 Und das ist – für mich – der große Unterschied in der Denkweise. Denn wenn ich ein funktionieren meiner Kinder voraussetze (also: gutes Benehmen, brav sein, pünktlich ins Bett gehen etc.), dann sind Grenzen und Rahmen starr vorgegeben. Das macht Beziehung fast unmöglich.
Ich glaube nicht, dass alle erwachsenen automatisch durch die eigene Erziehung ein schlechtes Verhältnis zu den Eltern bekommen. Wohl aber, dass sich gewisse innere Glaubenssätze einfach formen. Und das Gefühl, keine Option, kein Mitspracherecht zu haben und, dass die Liebe oder Anerkennung der eigenen Eltern von der Funktionsfähigkeit abhängig ist, sorgen in jedem Fall dafür. Was beim Kind ankommt ist schließlich: du bist gut, wenn du funktionierst. Wenn du artig bist. Dich benimmst.
Aber was, wenn das für mein Kind permanente Anpassung bedeutet und nie die Möglichkeit, sich wirklich frei entfalten zu können?
Für mich, ganz persönlich, ist nie das Ergebnis das Entscheidende, denn das zwingt mich irgendwie dazu eine Lösung zu finden, die „funktioniert“ und mich das Ziel erreichen lässt. Für mich ist die Beziehung und Bindung zu meinen Kindern, also wie wir alle zusammen den Weg gehen, um Ergebnisse zu erreichen, viel entscheidender. Auch, wenn ich meine Ziele dafür neu ausloten musste. 😉
Liebe Grüße,
Kathrin
Ein ganz toller und reflektierter Text. Und so wahr.
Ein toller Text! Denn ja, so ist es. Meistens jedenfalls. Es gibt auch die Tage, da funktioniert nichts, selbst ohne Erwartungshaltung. Aber das sind einfach die verkorksten Tage, über die man am besten lacht. Insgesamt bräuchte es im Leben mehr Gelassenheit, dass würde für alle weniger Stress bedeuten. Obwohl mir das klar ist, gelingt es mir auch nicht immer. Aber mit dem Bewusstsein gelingt es immer öfter. 🙂
Hach, wie recht du wieder hast! Ich freue mich immer so über deine Texte dieser Art! Danke dafür!
Danke für diese Worte! Ich habe dieselben Erfahrungen gemacht. Und doch fällt es mir immer wieder schwer, mich für den Frieden in der Familie und nicht für das Funktionieren zu entscheiden. Vier Kinder schaffe ich manchmal nur noch zu organisieren und viel zu wenig zu genießen. Die Schuldgefühle deswegen immer wieder zu bekämpfen und das Bekämpfen immer wieder zu erkennen und zu versuchen in Nachsicht mit mir selbst zu wandeln… Es fühlt sich oft so unmöglich an…
Es ist tatsächlich so! Hab‘ den Beitrag gerne geteilt 🙂
Ja <3
Genau so ist es. Ist der Druck weg, geht alles. Warum also nicht immer ohne Druck?
1. Es gibt eine maximal späte Bring-Zeit. Die ist sowieso schon ausgereizt etc. Es GIBT von außen vorgegebene Dinge. Es sei denn, man lebt autark. Und nein, viel Zeit lassen reicht nicht. Hab mal versucht, in Cocos Tempo Maple vom. Kiga abzuholen. Nach 90 min musste ich abbrechen mit dem Experiment, weil der Kiga zumachte.
2. Die Freiheit des einen endet da,,wo die des anderen. zum Bsp des anderen Kindes. Seufz!
Alles Liebe!
Mo
Ganz große Textliebe! <3
Stimme zu hundert Prozent zu – das versuche ich genau so schon länger immer wieder zu erklären. (Meine Kinder sind älter als Deine.)
Diesen Text behalte ich im Herzen und im Kopf. Vielen Dank dafür! <3
Herzlichst,
Steffi
Hach ja, das kenne ich zu gut mit den entspannten Morgenden und eben diesen anderen. Und genau das ist es, was mir vor dem Schulstart etwas Angst macht…
Hm. Nicht funktionieren müssen funktioniert aber nur dann, wenn man keine Verpflichtungen hat. Keinen Job, zu dem man um x Uhr da sein muss. Keine Schule, die zu einer bestimmten Zeit anfängt. Dann MÜSSEN gewisse Dinge einfach funktionieren.
Ein Beispiel aus unserem Familienalltag:
Ich arbeite 60%, 2 Tage bin ich ausser Haus, komme erst zum Abendessen zurück. Da muss ich mich drauf verlassen können, dass die Absprachen zwischen den Kindern und mir funktionieren. Dass sie Hausaufgaben gemacht haben, dem Papa schon alles gezeigt haben, das Wichtigste mit ihm besprochen wurde, die Sachen für den nächsten Tag vorbereitet sind. Denn nach dem Znacht noch Hausis machen, Referate diskutieren, Zeug für den nächsten Tag zusammensuchen FUNKTIONIERT nicht. Das führt zu Frust und schlechter Laune auf Mama-Seite und verkürzt die schöne Seite des Abend mit erzählen, kuscheln, entspannt sein, erheblich.
Liebe Claudia,
genau: gewisse DINGE müssen funktionieren – da gebe ich dir uneingeschränkt Recht. Worum es in diesem Text aber geht, das ist nicht das Anzweifeln, dass gewisse Abläufe und Dinge eben nun mal so sind wie sie sind und der Aufruf dazu, die alle zu verändern, sondern: zu akzeptieren, dass KINDER und Menschen im Allgemeinen nicht funktionieren (müssen). Und damit Familie eben auch nicht. An der Anfangszeit des Schulunterrichts lässt sich nichts ändern, an deinen Arbeitszeiten sicher auch nicht, daran, wieviel Hausaufgaben der Lehrer aufgibt auch nicht. Aber an der Einstellung. Nämlich, dass Kinder das trotzdem doof finden dürfen und es dann eben auch mal nicht perfekt ist. Dass wir immer ein wenig mehr Zeit brauchen oder es eben nicht immer ganz ideal abläuft. Uns begegnet schon so viel Erwartungsdruck, den brauchen wir uns nicht mehr selber machen. Und unserer Familie auch nicht 🙂
Ich wünsche euch alles Liebe!
Da hast Du wohl recht. Kinder und Menschen müssen nicht funktionieren. Aber die Abläufe, an denen sie beteiligt sind. Auch wenn man die doof findet. Sonst funktioniert Familienleben nämlich nicht, wenn jeder die Dinge, die er doof findet nicht macht oder boykottiert. Und das endet tendenziell im Chaos.