Eins für’s Herz, eins für die Seele. Mein Leben mit einem hochsensiblen und einem normal sensiblen Kind.

Nicht selten passiert es mir in meinen Gruppen und Beratungen, dass ich um mein normalsensibles Kind beneidet werde. Na klar, so will es das Klischee: das hochsensible Kind ist das Schwierigere, das Sorgenkind, das, das immer ein wenig mehr Begleitung und Aufmerksamkeit braucht und das in seiner gesamten Gefühlspalette so wahnsinnig anstrengend ist. Doch der Punkt ist: genau dies sind die Dinge, die ich gut kann, die mir meine Energie nicht auf negative Weise rauben und letztendlich auch die, die mein hochsensibles Kind für mich so wenig anstrengend machen. Daneben: mein vollkommen normalsensibles Kind, das in den Vorstellungen der anderen so viel einfacher ist. Dass so durch’s Leben marschiert und für das ich dankbar sein kann. Dankbar bin ich – und zwar für beide Kinder und jede einzelne ihrer Facetten. Aber ist eines von ihnen wirklich einfacher als das andere?

 

Mein Leben mit einem normal sensiblen und einem hochsensiblen Kind

Mein Leben mit einem normal sensiblen und einem hochsensiblen Kind

 

Einfacher? My Ass.

Mein D-Von ist ein Löwe, durch und durch. Nicht nur wegen seines Sternzeichens. Er besteht auf seine langen Haare. Schneiden oder frisieren ist keine Option – die müssen beim Rocken schließlich mitfliegen können. Er rennt im „Superkatzentempo“ durch die Wohnung, wenn er nicht gerade brüllt wie ein Löwe. Er liebt Spiele, die mit Kraft und Lautstärke zu tun haben und die Lego-Nachmittage mit seinem Bruder und seinem Onkel sind ihm nach wenigen Minuten zu langweilig. D-Von will das Blut durch seine Adern fließen spüren. Er ist ein Grenzgänger. Und er ist zweifelsohne der stärkste, kraftvollste Mensch, den ich kenne. Und sein Temperament treibt mich in den Wahnsinn.

Denn mein Löwe brüllt auch, wenn es um alltägliche Absprachen geht. Wenn er den falschen Becher bekommt. Oder ich sein Brot aus Versehen durchgeschnitten habe. Er besteht auf sein Recht und kämpft darum – mit all dieser Löwenkraft, die er da in sich hat. Auf gerade mal 94cm lodert ein Feuer durch mein Leben, eines voller Leidenschaft, Mut, Energie und Liebe. D-Von lässt sich die Butter nicht vom Brot und das Spielzeug nicht aus der Hand nehmen. Nicht einmal, wenn sein größerer Bruder an seiner Mähne herum reißt. Nein, er kennt seinen Weg, visiert seine Beute an und schlägt zu. Dafür nutzt er stets nur genau so viele Wörter, wie unbedingt nötig und kein einziges darüber hinaus. Keine Zeit mit Quasseln verplempern. Klotzen, anstatt zu kleckern.

Stattdessen: lautstarke Diskussionen an der Tagesordnung!

Und so diskutiert dieser kleine Junge seit zwei Jahren alles mit uns aus und zwar täglich. Er ist unermüdlich in allen Dingen, die er zu seiner Überzeugung zählt. Klar, sagt ihr jetzt, in dem Alter ist das halt Autonomie. Ja. Das stimmt. Aber wir sprechen hier von dem normal sensiblen Kind, das doch angeblich einfacher sein soll. Tatsächlich aber ist ER es, dessen Mut dafür sorgt, an der Straße NIE an der Hand gehen zu wollen und seine Neugierde dafür, dabei aber an allem so interessiert zu sein, dass jeder Spaziergang für mich ein Höllenritt wird. Begleitet vom hochsensiblen Kind übrigens, dem ich bloß einmal erkläre, welche Gefahr besteht und wie er sich verhalten muss – und das Thema ist durch. Bubba Ray’s hochsensible Autonomie hat ein gutes Jahr gedauert. D-Von hat zwei auf dem Buckel – and counting! Also wie genau soll dieses „einfacher“ jetzt sein?

Die übrigen Herausforderungen sind identisch: Eingewöhnung ist genau so wenig ein Spaziergang wie es bei Bubba Ray war. Einkaufen sogar schlimmer. Regeln umgeht D-Von noch viel passionierter als Bubba Ray es je auch nur versucht hätte. Und sogar die physischen Verletzungen durch etliche Stürze, verursacht dadurch, dass sein extrem hohes Selbstwertgefühl ihn sich selbst oft überschätzen lässt, sind schwerwiegender.

Soll ich nochmal fragen was genau daran einfacher ist oder einigen wir uns darauf, dass die Hochsensibilität allein ein Kind nicht zum Anstrengenderen macht? 😉

 

Mein normal sensibles Kind: kraftvoll, stark und mutig wie ein Löwe - und mindestens genau so laut.

Mein normal sensibles Kind: kraftvoll, stark und mutig wie ein Löwe – und mindestens genau so laut.

 

 

Einer fürs Herz: mein normalsensibles Kind.

Die Wahrheit ist: ich habe zwei Kinder, die unterschiedlicher nicht sein könnten und mich entlang meines Weges einfach entschieden, nicht zu fokussieren, was genau mich anstrengt. Sondern viel mehr zu sehen, was genau meine Kinder als Menschen und für mich als Mutter auszeichnet. Denn sind wir doch mal ehrlich: die Anstrengung bleibt sowieso. Aber das, was mir gut tut, bringt mir meine wahre Lebensenergie.

So sehe ich in meinem Löwenkind eines, das mein Herz auf berührt. Ich fühle mich mit ihm auf eine so besondere Weise verbunden, wie ich es noch nie in meinem Leben gespürt habe. D-Von fühlt sich an, wie eines meiner Körperteile. Ich sehe ihm unglaublich gern minutenlang beim Spielen zu und beobachte seine Kraft, die mich so sehr inspiriert. Ich kann kaum in Worten beschreiben, wie mich sein Mut ganz besonders bewegt und ansteckt. Welch tiefes Urvertrauen in sich selbst, in mich und die Tatsache, dass und wie wir verbunden sind, er ausstrahlt, während er seinen Weg geht, den er von niemandem in Frage stellen lässt. Er zieht sein Ding durch und es ist ihm einfach egal, was andere davon halten. Ich weiß, dass er eines Tages – nach der Schule vielleicht – als Poolboy oder Work-and-Travel unterwegs sein wird. Tendenziell Australien oder Island, auf jeden Fall so weit weg wie es nur geht. Er wird Musik machen. Und er wird das Leben durch seine Adern fließen spüren. Nichts weniger wünsche ich ihm – auch wenn ich schon heute darüber weine, dass ich ihn eines Tages an die weite, aufregende Welt verlieren werde. Aber dann tröste ich mich wieder: denn ich glaube ganz fest daran, dass auch ich sein Herz berühre, so wie er meines berührt und dass dies unsere Verbindung sein wird – auch über Zehntausende Kilometer hinweg.

Einer für die Seele: mein hochsensibles Kind.

Mache ich mir weniger Sorgen um ihn, weil er so kraftvoll und stark ist, als um seinen Bruder? Nein, ganz im Gegenteil. Seine Ausdauer und Selbst-Überschätzung hat uns schon den Einen oder Anderen, weitestgehend unnötigen, Tag in der Notaufnahme beschert. Anders als bei seinem Bruder, dem nur sehr selten Unfälle passieren. Denn Bubba Ray spürt alles viel intensiver – nicht nur die positiven Emotionen, sondern auch die negativen. Er kann bei Liedern weinen, bei Angst nicht schlafen, bei ekligem Essen echte Übelkeit verspüren, bei Wut Möbel und Türen zertrümmern und bei Trauer buchstäblich lethargisch werden. Und ja, das ist ganz sicher manchmal eine Herausforderung, doch: für mich persönlich eine der schönsten meines Lebens.

Denn durch mein ausgeprägt feinfühliges Kind durfte ich in einen ganz tiefen Kontakt zu mir selber kommen. Meinem Kind kann ich nichts vormachen. Ich weiß heute, dass die Basis für ein glückliches Familienleben hier meine gesunde Seele ist, die erst heilen musste. Aber heute kümmere ich mich viel intensiver um sie, bin stärker in Kontakt mit meinen eigene Gefühlen und erfülle mir einen Lebenstraum. Denn zu meinem hochsensiblen Kind kann ich nun endlich all die versöhnlichen, tröstenden Dinge sagen, die ich gern gehört hätte. Zum Beispiel, dass ich sein Gefühl wirklich gut verstehe. Oder, dass ihn Musik darum so tief bewegt, weil er ein so großes Herz hat und so besonders gut fühlen kann. Dass genau das seine große Stärke sei. Ich halte das Gesicht meines Kindes zwischen beiden Händen und spreche dabei doch mit uns beiden. Meine kleine Seele hat Heilung erfahren und noch dazu einen guten Kumpel bekommen.

Und so blühe ich auf, in meiner Rolle als Mutter zweier Kinder: eines für mein Herz und eines für meine Seele. Und was mehr könnte ich wollen?

 

Ohropax: als hochsensible Mutter sind die Tage so für mich viel leichter. Auch trotz Löwen-Lärm

Ohropax: als hochsensible Mutter sind die Tage so für mich viel leichter. Auch trotz Löwen-Lärm

 

Kinder sind einfach anstrengend.

Wie wir es auch drehen und wenden: mir fällt kein denkbares Szenario ein, bei dem Eltern ihre Kinder nicht zwischendurch mal anstrengend finden. Mal mehr und mal weniger. Aber an dem Fakt, dass es einfach anstrengend ist, sich 24/7 verantwortlich zu fühlen, können wir nun mal nichts drehen. Um kaputt ins Bett zu fallen brauchst du kein hochsensibles Kind. Erschöpfung, Stress, Anspannung – all das ist deine subjektive Wahrnehmung und variiert von Person zu Person. Und ich verrate euch ein Geheimnis, aber sagt es nicht D-Von 😉 : für meinen eigenen, hochsensiblen Kopf sind mir die leisen Töne seines – zumindest in den Augen aller anderen ach so viel anstrengenderen – Bruders an den meisten Tagen deutlich lieber.

In diesem Sinne: ohne euch zu kennen weiß ich, dass eure Kinder wunderschön sind, wie sie sind – und vor allem genau richtig. Oft sind es nämlich in Wirklichkeit die eigenen Ängste und Erfahrungen, die uns im Umgang mit unseren Kindern das Leben schwer machen. Und nicht unsere Kinder selbst… aber dazu komme ich in meinem nächsten Artikel.

Bis dahin alles Liebe,

eure ÖkoHippie.

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5 Antworten

  1. Danke für diesen schönen, einfühlsamen Text. Er hat mir klar gemacht, was in meinem Alltag leider manchmal in Vergessenheit gerät: wie wertvoll das Leben mit meinen beiden Jungs ist. Wie wichtig und schön es ist sie zu sehen – SIE zu SEHEN!! Danke fürs Erinnern ? Danke das es Dich hier und auf Instagram gibt ?

  2. Liebe Kathrin,
    ich verstehe, was Du meinst. Ich weiß nur nicht, ob das, was Du von D-Von beschreibst, ein nicht-hichsensibles Kind kennzeichnet. Geht es da nicht eher um sein Temperament? Anders ausgedrückt: Sind hochsensible Kinder leise, ruhige Kinder? Beide Ausprägungen, HSP und nicht, gibt es doch sowohl in extrovertiert als auch in introvertiert. Ich bin damit noch nicht so ganz fertig. Schwer zu beschreiben. Die Kita-Freundin, die hier kürzlich übernachtet hat, ist nicht HSP. Aber auch nicht mit Wahnsinnstemperament. Aber auch nicht introvertiert. Irgendwie einfach chillig, fröhlich, robust, ausgleichend. Hm. Inzwischen bin ich manchem rastlos, was sensibel eigentlich bedeutet. Da ist so eine tiefe Ebene, auf der wir einander erreichen. Das ist mein Gefühl. Alles andere kann ichirgendwie immer schwerer fassen. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung!
    Liebe! Mo

    • Liebe Mo,
      DAS ist genau der Punkt. Du kannst ein Bilderbuchmäßig nicht-hochsensibles Kind haben, dessen Temperament dich um den Verstand bringt und ein Bilderbuchmäßig hochsensibles Kind, das du – komischerweise im Gegensatz zu allen anderen um dich herum – null anstrengend findest. Und du kannst eines haben, dass dich wahnsinnig macht und dir ein nicht hochsensibles wünschen – aber dann kriegst du vielleicht eines, das andere Herausforderungen hat oder dir andere mitbringt. Oder…. du siehst: weder die eine noch die andere Eigenschaft sagt IRGENDETWAS über den subjektiven Stress aus. Es macht schlicht keinen Sinn, sich ein anderes Kind zu wünschen, als das, was man hat, denn jedes andere kann genau so – gefühlt – anstrengend sein.

      Genau das meinte ich 🙂

      Liebe! Kathrin

  3. Liebe Kathrin,
    als ich diesen Beitrag las, kamen mir die Tränen! Du sprachst und sprichst mir aus der Seele, wie es zuvor noch niemand geschafft hat (auch ich selber nicht) – danke dafür!! Der einzige Unterschied bei mir ist, dass das hochsensible Kind ein Mädchen ist. Ansonsten dito, dito, dito!! Und endlich verstehe ich, worin sich meine Verbindung zu den beiden unterscheidet: Sie (HSP) ist meine Seele, er mein Herz.
    Ich danke dir von Herzen!
    Meike

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