Werte statt Bewertung – ein Rant

Schon kurz nach der Geburt meiner Babies gab es Bewertung. Die Leute waren der Meinung, ich verwöhnte mein Kind und sorgte gerade aktiv dafür, dass es niemals zu einem selbstständigen Menschen heranwachsen könne. Die gruseligsten Schauermärchen wurden mir erzählt: vom Tyrannen aber auch vom Nachbarskind, die Eltern hätten das nämlich auch so gemacht und nun sei der Junge völlig verkorkst! Passe in der Schule gar nicht auf, wenn er denn überhaupt mal ginge und sei rotzfrech. Und dass DAS nur mit dem Stillen und dem Verwöhnen zusammenhängen könnte, sei ja wohl klar wie Kloßbrühe. Doch wenn ich all das nicht tat, gab es sie auch. Eigentlich gab es ständig und überall Bewertung: als Mutter stand ich plötzlich und völlig unerwartet dauernd auf dem Prüfstand.

Und mein Kind auch.

Neulich in der Kita. Es ist Elternsprechtag. Meine Kinder haben je zwei DIN A4 Zettel von ihrer Erzieherin gewidmet bekommen, die sie mir im Rahmen der jeweils 20 Minuten pro Kind gern vorstellen möchte. Bubba Ray ist immer noch brav und artig und sagt kein negatives Wort, aber auf einem Bein hüpfen klappt nicht so gut. Man sei da aber noch früh dran – für was auch immer, ehrlich gesagt keine Ahnung – und darum ist das auch zu vernachlässigen. Das Hüpfen. Und die Info. Oder so. 

D-Von sei voll angekommen, hätte viele Freunde, aber. Aber.

Wenn er etwas nicht essen mag, dann spuckt er es aus. Oder wenn er nicht mitsingen will, dann singt er nicht mit. Und wenn er eine pädagogische Maßnahme (syc) nicht „einsehe“, dann gäbe es Diskussionen. Und… „Sauberkeitserziehung“, sagt sie seufzend und legt das Blatt auf den Tisch. Sie sieht mich an. „Ja“, sage ich, „da gibt es halt keine.“
„Also er macht auch von sich aus keine Anstalten auf die Toilette zu gehen?“
„Er ist drei“, ich zucke mit den Schultern, „nein. Er hat wichtigere Prioritäten, denke ich.“

Die ständige Bewertung kleiner Menschen

Ich weiß, dass sie nichts dafür kann, sich nichts dabei denkt und hier wird auch gerade kein Fass aufgemacht. Möglicherweise stört sie das Wickeln selbst überhaupt nicht, es ist aber eben nun einmal ein Punkt auf Ihrem DIN A4 Blatt und muss abgearbeitet werden. Sie gehört zu meinen absoluten Lieblingserzieherinnen und ich schätze sie sehr. Aber das Bewertungssystem der kleinen Menschen, das auch sie gezwungen ist zu befolgen, kotzt mich über alle Maßen an.

„Du kannst es nur nicht leiden, wenn jemand nicht sagt, dass unsere Kinder perfekt sind!“, sagt mein Mann lächelnd am Abend zu mir. Recht hat er. Wer nicht sieht, wie perfekt und wunderschön meine Kinder sind, der hat nicht richtig hingeguckt. Das tut mir leid. Aber heute geht es wirklich um was anderes.
Bubba Ray ist nämlich zum Zeitpunkt des Gespräches 4 Jahre alt und schreibt weit über 20 Warter aus dem Gedächtnis – und alle anderen ab. Er verlässt nie ohne Block und Stift das Haus und sucht sich auf Spaziergängen oder beim Einkaufen gezielt aus, was er üben will. Er malt frei Hand Männchen mit Details. Mit Schuhen und Cappies, zum Beispiel, und zwar den ganzen Tag. Er sortiert autodidaktisch Buchstaben und decodiert Wörter. Neulich hat er das erste Wort gelesen. Ich wiederhole: vier Jahre alt. Noch zwei Jahre bis zur Schule. 

D-Von ist schon mit 10 Monaten das Klettergerüst allein hinauf und wieder herunter geklettert. Er rennt und springt mit den größeren Kindern und spielt übrigens auch nur mit Älteren. Aber seine Superkraft ist, dass dieses ganze Kind nur aus Herz besteht. D-Von ist mitfühlend, liebevoll, umsichtig. Seit er lebt liebt  er mit ganzem Körpereinsatz, freut sich über absolut alles und nichts bringt ihn davon ab, in anderen Menschen oder Tieren etwas Wertvolles zu sehen. Das ganze Kind besteht nur aus Herz. Voller Liebe und Wärme. DAS ist mein D-Von.

 

Wie ein Kind, das wundervoller nicht sein könnte, in einer Bewertung schlecht abschnitt. Oder: wieso wir keine Bewertung brauchen!

Wie ein Kind, das wundervoller nicht sein könnte, in einer Bewertung schlecht abschnitt. Oder: wieso wir keine Bewertung brauchen!

 

Bewertung ist überall….

„Das Schneiden klappt wirklich noch gar nicht. Hat er Zuhause Scheren zur freien Verfügung?“
Ich lache. Das Kind, das am liebsten Löwe spielt, brüllend durch die Wohnung rennt und mit der bloßen Hand einen Holzhocker auseinander bricht? Äh nein. SELBSTVERSTÄNDLICH AUF KEINEN FALL!!! Wir haben zwei Hunde. Und noch einen Sohn. Weder die Hunde noch das Kind würden das überleben. Sie grinst und versteht. Natürlich, sie kennt ihn doch! Aber auf dem Papier steht: kann nicht gut schneiden. Singt nicht mit. Hält sich nicht an Regeln. Nimmt nicht adäquat an den Mahlzeiten teil. Fehlproduktion.

Sie wertet: „Das müssen wir beobachten.“
Ich werte: „Alles richtig gemacht!“

 

Wenn aus dem Wertesystem ein BEwertUNGSsystem wird

Wir haben unseren Kindern einen eigenen Bindungsbaum gebastelt. Unten, in den Wurzeln, sind Fotos von uns Eltern. Auf dem Stamm klebt ein Bild des jeweiligen Kindes. In der Baumkrone, am Rand, kleben Bilder der weiteren Bindungspersonen. Und in der Mitte sind kleine rote Äpfel, auf denen unsere Werte stehen.
Dort finden sich Wörter wie „Geborgenheit“, „Respekt“, „Liebe“ und „Achtsamkeit“ …. aber vor allem: Freiheit.

Ja möglicherweise „spuckt“ (Anmerkung: nicht im hohen Bogen, sondern wie ein komplett normaler Dreijähriger einfach auf den Teller!) mein kompetentes Kleinkind aus, was er nicht essen mag. Das ist wundervoll – denn genau das ist der Wert, den ich meinen Kindern habe mitgeben wollen. „Du musst absolut nichts tun was du nicht willst, denn du bist frei. Niemand darf über dich bestimmen!“ Sie diskutieren „pädagogische Maßnahme“ weil ich Ihnen genau das beigebracht habe: „Manche Regeln sind einfach Kokolores und wir sehen Sie flexibel an.“ Regeln, die besagen, dass er bei einem Spiel im Kreis mal in die Mitte muss – und das einfach nicht möchte. Er verweigert… und nimmt sich damit den Lernerfolg? Welchen denn? Offensichtlich hat D-Von seinen Platz in der Welt gefunden und dazu auch noch ne klare Meinung. Ein integrer, starker, resilienter kleiner Mensch der für seine Freiheit in der Schule vermutlich eine vier im Sozialverhalten und eine schlechte Kopfnote bekäme. Und das ist einfach unfair!

 

„Ohne Regeln geht es nicht!“

Keine Ahnung, vielleicht kriegen wir die Welt, in der es wirklich ohne geht auch nicht mehr mit. Schade drum, aber sowas braucht viel Zeit. Doch ich muss immer wieder an eine Mutter aus meinem Kurs denken, die mit ihrem Sohn beim Arzt war und hörte er sei viel zu dick. Mit zwei Jahren. Das Kind war vollkommen normal und unterschied sich praktisch gar nicht von anderen. Sie erzählte davon im Kurs und alle waren geschockt. „Ich kann das ja ab“, ergänzte sie, „aber wenn ich jetzt so eine unsichere Mutter wäre, die sowieso schon Ängste hat, dann würd ich doch von der Brücke springen!“

Und exakt darum geht es! Möglicherweise kann ich, zu 3 Trilliarden Prozent davon überzeugt, dass wir nicht verwöhnen und dass begleiten wertvoller sein wird, als das Pressen in Förmchen, diese Unterhaltung gut aushalten. Aber die nächste Mutter, die schon vor der Tür wartet – wie wird sie mit der Info, dass ihr Sohn nicht auf einem Bein hüpft umgehen? Wie wird sie sich fühlen? Ich meine, wie fühlen Eltern sich denn, wenn man ihnen sagt, dass ihr Kind verdammt nochmal nicht gut ist, wie es ist, sondern mitsingen soll, die Klappe halten und sich fügen, endlich trocken werden oder (wozu denn eigentlich??) auf einem Bein hüpfen soll? Was ist das denn überhaupt für ein Bogen? Wer hat den erfunden? Was… was…. wo… ich meine…. gnaaaaaaaah!!

 

Eltern: schafft Werte! Keine Bewertung!

Du trägst dein Kind und kriegst im Supermarkt von wildfremden Menschen eine Meinung ab. Ungefragt. Ein 21 Monate altes gestilltes Kind, das sei ja auch nicht mehr normal, sagen sogar manche Kinderärzte! Du erlaubst deinem Kind eine – in meinen Augen absolute – Selbstverständlichkeit wie, zu entscheiden, was man selbst essen und herunter schlucken, also DEM EIGENEN KÖRPER ZUFÜGEN WILL und tust…. was? Verwöhnen? Mann Leute! Das ist doch Bullshit! 

Warum genau dieses starre Bewertungssystem für Menschen offenbar so wichtig ist, verstehe ich bis heute nicht. Nein, denn von Zahlen und Statistiken und Gerüsten verstehe ich nun mal nichts! Aber ich verstehe was von Bindung, Kindesentwicklung und Bedürfnissen von Familien und erlaube mir daher eine klare Meinung: 

 

Bewertung - kein Mensch braucht die.

Bewertung – kein Mensch braucht die.

 

Bewertung ist Mist.

Es ist uneingeschränkter Mist. Beobachtung: ja. Achtsamkeit: ja. Verantwortung übernehmen: unbedingt! Kinder begleiten, unterstützen, da sein wenn nötig: jede Sekunde gern. Aber daneben stehen, kleine Menschen auf einem Bein hüpfen lassen, mit dem Bleistift ein „X“ in die Tabelle eintragen oder gar Konsequenzen walten lassen, weil es zu seiner freien Entscheidung gehört, keinen Brokkoli zu mögen? Ihr wisst, worauf ich hinaus will.

Werte sind es, die Menschen in ihrer Entwicklung weiterbringen, die für Kinder einen Bilderrahmen schaffen, in dem sie selbst das Bild frei gestalten können. Zumindest in meiner Welt und in meiner Vorstellung davon, wie wir und die Welt und alle, die auf ihr leben, überhaupt noch eine Chance haben! Bewertung ist wahnsinnig schnell defizitär; zeigt dir vor allem, was du nicht kannst. Und wieso genau fangen wir damit fünf Minuten nach der Geburt an? Was wollten wir damit doch gleich erreichen? Welcher Wert steht dahinter? Inwiefern kann das Familien etwas bringen und wenn überhaupt, dann äh… was? 

Vielleicht habt ihr Antworten für mich, vielleicht nur die gleiche Verzweiflung. Ob es ganz ohne geht und wir eine Welt erleben, die frei von alledem ist? Ich wage es zu bezweifeln. 

Aber ich will nicht die Chance verpassen, wenigstens den Versuch zu starten. 

Im Gespräch mit meiner Lieblingserzieherin einigen wir uns auf nichts. Ich glaube tatsächlich, dass wir beide froh sind, als es vorbei ist. Außerdem habe ich den leisen Verdacht, dass sie selbst nicht voller Inbrunst dahinter steht, mir sagen zu müssen, wer jetzt wie hüpft und singt. Sie kennt meine Kinder und mich, sie weiß, dass alles in bester Ordnung ist, tja. Aber. Die Strukturen, der Bogen, der Bund, wer auch immer. Ich schleppe mein nicht hüpfendes Kind weder zur Physiotherapie, noch übe ich Kinderlieder mit D-Von. Stattdessen erkläre ich ihr minutiös, wie Zuhause gegessen wird und immer wurde und wie meine Kinder es lernten. Alles ergibt Sinn, sie nickt. Auch die Sauberkeitserziehung ist vom Tisch.

Wir sind in Beziehung gegangen, tauschten uns aus und meine Lieblingserzieherin, mit ihrer wahnsinnig tollen Kommunikation und ihrem liebevollen Blick auf die Kinder, bleibt meine Lieblingserzieherin. D-Von wird nicht auf die Toilette gesetzt und auch sonst passiert gar nichts. Ich glaube, nicht nur, weil sie selbst den Bogen vielleicht ein bisschen komisch findet, sondern auch, weil wir in Beziehung gegangen sind, anstatt in die Bewertung. Weder ich noch sie hatten nämlich Lust, uns auf Distanz von einander dafür anzufeinden, dass unsere Standpunkte andere sind. Und siehe da: Thema beendet. Alle mögen sich noch.

Das nenne ich mal WERTvoll.

In diesem Sinne,

Eure ÖkoHippie

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2 Antworten

  1. Hallo, ich mag deinen Blog. Den Satz, „er hat wichtigere Prioritäten“ werde ich mir mir merken. Habe sehr lachen müssen, auch wenn der Zusammenhang ja eher nicht so zum lachen war.

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