Kennt ihr diese Texte die mit „Ich werde oft gefragt…“ anfangen? Ich finde sie immer ein bisschen überheblich. Ich werde auch einige Dinge oft gefragt. Zum Beispiel, was es heute zum Abendbrot gibt (von meinen Kindern), ob ich Lust auf eine Folge „Suits“ habe (von meinem Mann) oder ob ich mit meinem Bruder gesprochen habe (von meiner Mutter). Was ich wirklich, wirklich oft gefragt werde, ist zu unsexy, uninteressant, profan für einen eigenen Text. Bis auf diese eine Frage, die mir wirklich häufig Leute stellen und über die ich immer ein bisschen schmunzeln muss.
„Wie schaffst du das eigentlich alles?“
Ich hab einen Spiegel im Flur. Ganzkörper. Und einen im Bad, nur für Gesicht und Décolleté. Da sehe ich tagtäglich einmal hinein. Mir ist zu jeder Stunde bewusst, welches Bild ich abgebe oder eher das Bild, das ich glaube abzugeben. Mein konstruiertes Ich. Da sehe ich mich, mich selbst, nah dran an meinem Innen und doch äußerlich zusammengebastelt. Wir alle konstruieren. Uns selbst, unser Leben, unsere Zeit. An irgendeinem Punkt meiner Selbstdarstellung scheine ich es geschafft zu haben, die Leute glauben zu lassen, dass ich dieses „alles“ tatsächlich auch „schaffe“.
Und beim bloßen Gedanken daran kann ich das Lachen nicht mehr bremsen.
Wie fühlt sich schaffen an oder wie sollte es sich anfühlen? Das frage ich nicht zurück, aber ich frage es mich selbst. Durch welche äußerlichen oder innerlichen Merkmale ist denn von meinem – konstruierten – Alltag auf „ich schaffe alles“ zu schließen?
Nun, um es nicht philosophisch werden zu lassen erspare ich mir die Fragerei und Diskussion darum und erkläre es einfach mal direkt so, wie es wirklich ist.
Ich „schaffe“ gar nix – und will es auch nicht.
Die Wahrheit ist: das Gefühl oder die Perspektive, ich würde alles irgendwie so wahnsinnig toll schaffen, entsteht nur, weil wir es so konstruieren. Der Eindruck entsteht dann, wenn jemand bloß die Fakten meines Berufes und meiner Projekte durchgeht. Da zählen wir drei Jobs mit mehr oder weniger hohem Aufwand, alles in selbstständiger Form, einen Mann, zwei Kinder, zwei Hunde, einen Schrebergarten, einen Blog, ein paar Social Media Profile, einen Haushalt und wartet…. wartet es kommt gleich…. mich. Genau. Mich selbst. Klingt viel, und ist es auch, aber.
Aber nein – lediglich die bloße Aneinanderreihung dieser Fakten wirkt so, als hätte ich alles im Griff. Ist aber nicht so. Die Jobs mache ich nicht alleine, sondern zumeist in einem Team. Mein Beruf ist meine Berufung, weshalb er sich die meiste Zeit nicht anfühlt wie Arbeit – das macht es mir leicht. Zeitaufwändig ist er trotzdem, weshalb in meinem Leben alles nur mit guter Organisation und Struktur funktioniert. Meine Kinder sind nur rund 20 Stunden betreut, weshalb die Abende mit meinem Mann oft unter der Arbeit, die dann zu tun ist, leiden. Oder die Arbeit leidet darunter, dass mein Mann meine körperliche und geistige Anwesenheit fordert. Mit den Hunden geht Shane (bester Freund und sowas wie Bruder) praktisch täglich, der Blog ist Hobby und aktuell fürchterlich wenig bedient, die Social Media Profile sind mir nicht wichtig genug um Stunden Arbeit hineinzustecken, weshalb sie auch entsprechend langsam wachsen und Haushalt und Garten bleiben liegen. Und ja, deshalb sehen beide aus wie Sau aber da ist eben auch noch dieser Punkt, der dort oben zuletzt genannt wurde – aber in Wirklichkeit das zentrale Thema meines Lebens ist.
Achtsamkeit. Die schon wieder.
Ja, denn die Wahrheit ist: ich schaffe gar nicht alles. Ich kriege nicht alles unter einen Hut! Meistens will ich mehr als ich schaffen kann, habe drei Millionen Ideen die ich allein aufgrund der mangelnden Zeit nicht umsetzen kann, verpasse wertvolle Momente mit meinen Kindern, weil ich so viel arbeite und schaffe wertvolle Arbeit nicht, weil ich viel lieber mit meiner eigenen Familie zusammen bin. Dann lasse ich Dinge liegen und so manche Deadline verstreichen. Und ich vergesse Dinge, ärgere mich darüber und lasse den Ärger los. Ich lebe im Moment. Im Hier und Jetzt. Manchmal bin ich da wach und ausgeschlafen, fit und putzmunter und reiße meine Verpflichtungen nur so ab. Und manchmal ist mein Hier und Jetzt total erschöpft vom gestern oder dem Blick auf morgen und zwingt mich in die Knie. Erschöpfung – immer in meinem Nacken. Gepaart mit meinem permanenten Gewahrsein, dass es nie wieder so kommen darf, wie 2016, als die Erschöpfung einen anderen Menschen aus mir machte. Dieses Wissen, diese tiefe innere Weisheit, dass es niemals etwas wichtigeres geben kann, als die innere und äußere Zufriedenheit – die lässt mich voll und ganz begreifen, dass….
….ich nicht alles unter einen Hut kriegen muss.
Was die Leute sehen, wenn sie mich fragen, wie ich all das schaffe, ist mein konstruiertes „Kathrin, die Working Mom und Weltverbesserin“-Ich. Es ist ein kleiner Ausschnitt meiner Realität und nur das, was ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt bereit bin zu berichten. Aber raus gezoomt, von oben betrachtet, aus der Vogelperspektive, da türmen sich chaotische Schreibtische voll unerledigter Aufgaben, endlos lange To-Do-Listen, leere Bankkonten und unerfüllte Wünsche in meiner wahren Realität.
Nein. Ich kriege nicht alles unter einen Hut und von alles schaffen, da kann gar nicht die Rede sein.
Zum Glück! Denn wisst ihr, was ich niemals gefragt werde, was ich mich aber oft selbst frage? Wer wäre ich nur, wenn ich tatsächlich alles schaffte. Wo stünde ich. Was wäre mein Leben. Wie wäre das, wirklich alles zu schaffen, perfekt umzusetzen, niemals zu wenig Zeit zu haben und keine Listen mehr?
Ich wäre ein Mensch, mit einem aufgeräumten Schreibtisch und Arbeit, die am Ende eines Tages erledigt ist. Mit kürzeren Listen und Vereinbarkeit, die sich wirklich so nennen dürfte. Aber ich wäre immer noch ich. Es wäre nur eine andere Konstruktion.
Ein alter Hut
Alles unter einen Hut kriegen zu wollen, ist doch ein alter Hut. Und er stinkt, ist staubig und sieht scheisse aus. Leute, das ist so nicht 2019. Es ist auch nicht 1995 und auf keinen Fall 1968. Es ist eigentlich gar nichts! Der Hut ist so groß wie dein Kopf und das ist verdammt wenig Platz für so viele Aufgaben. Es fällt etwas hinter runter, vielleicht sogar raus, wenn wir wirklich versuchen, alles darunter zu stopfen. Und warum sollten wir das tun?
Ich jedenfalls hatte noch nie ein Hut-Gesicht. Dafür aber ein Brillen-Gesicht! Und ich kann euch sagen: manchmal hilft es wirklich, eine andere Brille aufzusetzen, eine andere Perspektive einzunehmen und sich einzulassen auf etwas, was wir fast schon wieder verlernt haben: gnadenlos unperfekt zu sein.
In diesem Sinne: genießt den Tag, egal, ob ihr alles schafft – oder eben nicht.
Eure ÖkoHippie
6 Antworten
Wow, toller, ehrlicher Text! Ich schaffe auch nicht alles, nicht ansatzweise, noch bin ich aber nicht so weit mich nicht darüber zu ärgern. So besteht mein Alltag aus absoluter Müdigkeit weshalb ich abends oft nichts schaffe und dann dem Ärger nichts zu schaffen. Immerhin einmal die Woche Paarzeit ist durch einen Tanzkurs seit zwei Monaten drin.
Ich würde mich gern hier bei uns im Ort bei einer Firma bewerben, dann habe ich zwei Stunden ‚mehr‘ (anders) am Tag Zeit, da ich nicht nach Hamburg reinfahren muss. Vielleicht schaffe ich dann auch mehr…
Dir wünsche ich viel Kraft weiterhin!
Dafür drücke ich dir die Daumen und was das Ärgern angeht: so war es bei mir ganz lange Zeit auch, aber das zerfrisst einen selbst. Ich hoffe, du kannst das ganz bald ablegen.
Alles Liebe dir <3
mega guter text! brille statt hut! (wobei mir beides gut steht, am besten in kombination) 😉
😉 Und man kann ja auch beides ganz gut gebrauchen. Und eben auch oft mal wechseln 😉
Danke für deine Worte!! Ich sitze grad Büro am Schreibtisch und frage mich, wie ich alles unter einen Hut kriegen soll, Job und 3 Kinder, Ehemann 5 Tage auf Dienstreise und bringt dann Schwiegervater mit. Vor lauter Überlastung quäle ich das Internet nach Ablenkung und finde dich:)) Ich kullern mir Tränen die Wange runter. Aus der Seele gesprochen. Ich werde mal meine Brille putzen und den Hut an den Nagel hängen!
Das ist eine gute Idee und was deine Woche angeht: lass es langsam angehen. Ich bin sicher, du machst das gut! <3