„Alles was ich fühle, ist okay!“ – Jil bei #HochsensibleMütter

Irgendwann in 2016 lernte ich Jil kennen. Eine 30-jährige Zweifachmutter und Bloggerin, deren Texte ich mochte und die mich tief bewegten. Irgendwie traten wir in Kontakt, nicht zuletzt, weil ihr Sohn, H1, in seinen Facetten denen meines Bubba’s so ähnlich ist. Auf ihrem Blog Von Herzen und Bunt schreibt sie über sich und ihre Kinder aber auch über ihren Job als Coach, indem sie Mut macht und Unterstützung für  hochsensible Familien bietet. Ich genieße unsere Gespräche per Mail, unseren Austausch und ihre kluge und authentische Art über dieses Thema, das uns beide so bewegt, zu schreiben. In meinem heutigen Interview berichtet sie von alldem und auch von ihrer normal-sensiblen Tochter, den Unterschieden im Alltag und ihrer wirklich wahnsinnig wertschätzenden Art, mit allem, was da ist und angenommen werden muss, umzugehen. Tolle Einblicke in das Leben einer hochsensiblen Mutter!

 

Vorhang auf für Jil bei #Hochsensible Mütter

 

vonherzenundbunt1

 


 

Du bist hochsensibel. Seit wann weißt du davon? Hast du einen Test gemacht und wenn ja welchen? Und woran bemerkst du deine eigene Hochsensibilität am Deutlichsten?

Ich weiß davon seit ungefähr 3 Jahren. Mein Heilpraktiker hat in einem Test herausgefunden, dass ich hochsensibel bin. Diese Erleichterung in mir, die ich in diesem Moment gespürt habe, war wirklich groß. Geahnt hatte ich es schon länger, aber dieser eine Moment, der war meine Erlösung. Endlich eine Erklärung für all das; oder besser: Eine Erklärung für mich als Menschen, den ich in seinem Denken und Handeln selber oft nicht verstanden habe. Ab dem Tag, an dem ich erfuhr, dass ich hochsensibel bin, habe ich viel darüber gelesen, angefangen mich vegan zu ernähren und so weiter. Man könnte sagen, dass ich seit drei Jahren, die nun vergangen sind, mein Leben ziemlich verändert habe. Ich spüre viel mehr in mich hinein und versuche nicht mehr ständig mich selber zu übergehen. Was ich als hochsensible Mutter erlebe und denke, verarbeite ich auf meinem Blog. Mein Psychologiestudium und meine Coachingausbildung sind nun neben meiner Hochsensibilität die Grundpfeiler meiner beruflichen Erfüllung, denn aufgrund der Nachfrage werde ich zukünftig mehr und mehr hochsensible Eltern coachen. Ich freue mich riesig! Am meisten macht sich die Hochsensibilität in meiner Geräuschempfindlichkeit bemerkbar. Ich erschrecke unheimlich schnell und reagiere dann sofort körperlich, mit Herzrasen und so. Mir ist der Alltag, besonders mit Kindern, einfach zu laut. Außerdem erlebe ich eine starke Überidentifizierung mit meinen Kindern, mit der ich aber inzwischen gut umgehen kann.

 

Hochsensible Mütter schwanken, so Brigitte Schorr, eine Expertin auf dem Gebiet, besonders häufig zwischen Langeweile allein mit dem Kind und Überforderung im Alltag, ständig gepaart mit schlechtem Gewissen. Kannst du das bestätigen?

Sowas von! Als ich das damals im Buch gelesen habe, war ich sehr erleichtert, dass es nicht nur mir so ergeht und dass dieser Aspekt Teil der Hochsensibilität zu sein scheint. Ich langweile mich unheimlich schnell und wenn ich dann etwas tue, ist mir ganz schnell alles zu viel. Ein Drahtseilakt. Ein ständiges Auf und Ab, das ich selber nicht so ganz vorhersehen kann.

Das schlechte Gewissen ist übrigens mein ständiger Begleiter. Ich arbeite daran es abzulegen, das gelingt mir an manchen Tagen besser, an manchen schlechter. Besonders extrem ausgeprägt ist es im Bezug auf meine Kinder. Fremdbetreuung und Schlaf sind zwei Themen, bei denen mich das schlechte Gewissen übermannt und ich meine eigenen Bedürfnisse zu oft ausblende.

Diesen Aspekt der Hochsensibilität, das Hin und Her zwischen Langeweile und Überforderung und das ständig schlechte Gewissen, sehe ich als große Herausforderung. Mit schlechtem Gewissen im Rücken lässt sich nämlich kaum etwas genießen. Das wiederum frustriert, weil man sich fremdbestimmt fühlt, usw.

 

Als Mutter ist man irgendwie ja auch fremdbestimmt durch das eigene Kind. Empfindest du das auch und wenn ja, an welchem Beispiel besonders? Und wie gehst du damit um?

 

Die Fremdbestimmung, besonders im ersten Lebensjahr der Kinder, finde ich fürchterlich. Die Abhängigkeit hat mich unheimlich eingeengt, besonders H1, unserem ersten Kind. Ich fühlte mich so gefangen, dass ich das Gefühl hatte ausbrechen zu müssen. So habe ich in dieser Zeit etwas für mich getan und neben dem Baby noch eine einjährige Coachingausbildung gewuppt. Völlig irre eigentlich, denn für mich war es unheimlich anstrengend mit einem hochsensiblen Baby alleine zu Hause zu sein, ganz unabhängig von der Fremdbestimmung. Im Nachhinein kann ich aber sagen: Es war eine gute Entscheidung. Es gab da irgendwo in meinem Leben auch ein „Ich“ und eine Aufgabe, der ich mich widmen konnte, die mich zwar fordert, aber nicht überfordert. So gab mir die Coachingausbildung neben viel neuem Wissen auch das Gefühl mit auf den Weg etwas gut zu machen. Wenn ich mich um meine Aufgabe kümmern durfte, war ich für einen Moment nicht die schlechte Mutter, von der ich dachte, sie zu sein. Allgemein finde ich es wichtig, sich ausreichend Zeit für sich selber zu nehmen. In Momenten, in denen man sich fremdbestimmt fühlt, kann man sich dann vielleicht auf ein bestimmtes Event freuen, das man ohne Kinder besuchen wird. Auch eine Nacht im Hotel kann Wunder bewirken, auch, wenn es enorme Überwindung kosten mag.

 

Ist deine eigene Mutter oder dein Vater hochsensibel? Erkennst du sie in dir wieder? Was schätzt du an deinem hochsensiblen Elternteil? Und was gar nicht?

Ja, auch eines meiner Elternteile ist hochsensibel und ich erkenne mich, je älter ich werde, immer mehr wieder. Spooky!

 

Ist dein Kind hochsensibel? Prallt ihr oft aneinander?

H1, wie ich ihn auf meinem Blog nenne, ist ebenfalls hochsensibel. Wir prallen aneinander, wenn er müde ist. Auch wenn ich seine dann sehr weinerliche Stimmung gut nachvollziehen kann, kann ich sie nur schwer ertragen. Außerdem scheppert es hier, wenn es an die Einschränkung meiner Selbstbestimmung geht. Wenn ich etwas Bestimmtes vorhabe, worauf ich mich lange gefreut habe oder arbeiten möchte und ein Kind krank wird zum Beispiel. Meine eigenen Bedürfnisse hinten anzustellen fällt mir nicht immer leicht. Dann kommt alles hoch: Das schlechte Gewissen, das Gefühl eine schlechte Mutter zu sein, weil ich lieber wo anders wäre, die enorme Fremdbestimmung, die Langeweile, die Überforderung. Alle Gefühle prasseln auf mich ein. 

Ich habe inzwischen eine Lösung gefunden, die ich auch meinen Klienten vermittle. In Kurzfassung: Ich wehre mich nicht gegen all diese Gefühle. Ich atme tief ein und lasse alle Gefühle, die ich empfinde zu und nehme sie an. Alles, was ich fühle, ist okay. Anschließend schiebe ich meine Bedürfnisse vor meinem inneren Auge ein Stück bei Seite um ausreichend Platz für die Bedürfnisse meines Kindes zu haben. Aber eben mit dem Wissen, dass meine Bedürfnisse ebenso ihre Daseinsberechtigung und ihren Platz haben und ich mich ihnen zu einem späteren Zeitpunkt widmen darf.

 

Hast du ein normal-sensibles Kind? Welche Unterschiede zwischen den Kindern und zwischen dir und deinem normal sensiblem Kind machen sich besonders oft bemerkbar?

Ja, H2, meine Tochter, ist (vermutlich) nicht hochsensibel. H2 ist ziemlich taff und weniger empfindlich. Sie steckt einiges weg und ist weniger nah am Wasser gebaut. Sie isst (fast) alles und ist deutlich weniger schüchtern. Sie ist unser Ausgleich und ich bin dankbar, dass ich sie erleben darf. Sie gibt mir die Erkenntnis, dass ich nicht alle Schuld in mir suchen muss.

 

Welches Kind empfindest du als pflegeleichter?

Das ist eine Frage, über die ich nun schon eine Woche nachdenke. Ich denke, ich empfinde beide gleich anstrengend 😉 H1 ist sehr geräuschempfindlich und schüchtern, was mich manchmal anstrengt. Auch sein Müde-Modus treibt mich hin und wieder in den Wahnsinn. Dafür war er immer ein sehr „braves“ Kleinkind, das nie gebissen, gehauen oder anderen etwas weggenommen hat. H2 hingegen ist ein Wirbelwind. Sie beißt gerne mal zu, wenn ihr etwas nicht passt. Hingegen bin ich bei ihr sicher, sie wird keine solch großen Schwierigkeiten im Kindergarten haben wie ihr Bruder, weil sie sich besser für ihre Bedürfnisse einzusetzen weiß.

 

Stressabbau und Selbstregulationsmechanismen: würdest du sagen, du lebst gut mit deiner Hochsensibilität? Welchen Strategien hast du, um dich selbst zu beruhigen und deinen inneren Stress abzubauen?

Es wird. Ich habe Fortschritte gemacht, wenn es darum geht auch mal „Nein“ zu sagen. Ich überschreite meine eigenen Grenzen aber immer noch zu häufig, was sich sofort körperlich äußert. Zum Beispiel über Nebenhöhlenentzündungen, Verspannungen oder Migräne. Soweit sollte es nicht kommen müssen. Es gibt für mich auf jeden Fall noch was zu tun in Sachen Abgrenzung und Selbstregulation, aber das ist okay.

 

Welchen Rat würdest du anderen hochsensiblen Müttern geben? Und wenn du Literatur zu dem Thema gelesen hast, möchtest du etwas empfehlen?

Mein Rat: Tauscht euch mit anderen hochsensiblen Müttern aus. Lest meine Alltagstipps für hochsensible Mütter und hochsensible Kinder 😉

Literaturtipps: „Hochsensible Mütter“ von Brigitte Schorr, „Wenn die Haut zu dünn ist“ von Rolf Sellin, „Henry mit den Superfühlkräften“ von Petra Neumann (Kinderbuch)

 

Ein Ausblick in deine Zukunft: Welche Eigenschaft darf wachsen, was willst du so bewahren wie es ist und woran möchtest du gezielt arbeiten?

Für mein feines Gespür bin ich sehr dankbar und ich freue mich, wenn es mir erhalten bleibt, vielleicht sogar wächst. Meine Geräuschempfindlichkeit hingegen darf sich gerne etwas zügeln. Es vergeht kein Tag, an dem ich mir nicht zwischendurch gerne die Ohren zuhalten möchte.

 


 

Übrigens: ich war letztes Jahr zu Gast bei Jil im Interview über hochsensible Kinder. Das findet ihr, wenn ihr HIER klickt. 🙂

 

Alle anderen Interviews der Reihe #Hochsensible Mütter findet ihr HIER.

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