Das nennen wir Liebe

Der schwarze Schaukelsessel steht genau neben dem künstlichen Weihnachtsbaum. Es ist sein 5. Einsatz und genau wie in den Jahren zuvor sitzen auch heute wieder zwei kleine Menschen mit ihrem Onkel darunter und bauen diverse Sets zusammen. Ich wiege mich selbst in seinem Schoße hin und her und beobachte. D-Von und Bubba Ray planen die nächsten Arbeitsschritte, teilen sich die Jobs auf, bis die kleinen Finger zu müde werden und die Augen die Bauteile kaum noch von einander unterscheiden können. Todmüde beginnt D-Von, seinen Schnuller zu suchen und – ich habe nur darauf gewartet – steht dann auf, um zu mir zu kommen.

 

„Singst du für mich?“

Müdigkeit ist für ihn ein ganz zuverlässiges Anzeichen dafür, mich oder seinen Papa zu suchen. Sein System meldet Erschöpfung und sofort sucht er unsere Geborgenheit, unseren Schutz. Nicht, weil wir ihm das so beigebracht hätten und sicher auch nicht, weil er „noch so klein ist“ – er ist 4,5 Jahre alt und in seinen Augen wirklich schon kurz vorm Auszug aus dem Elternhaus – nein. Sondern weil er es liebt und braucht und die Gewissheit darüber, bei uns diese kleinen Wünsche nach Ruhe und Geborgenheit erfüllt zu bekommen, ganz tief in sich hat.

Auf meinem Schoß rollt er sich wie ein Baby zusammen und steckt seine Hand in meinen Ärmel oder unter mein T-Shirt, um die darunterliegende Haut zu berühren. Er schließt die Augen, nuckelt zwei, drei Mal und öffnet sie dann wieder: „Mama, kannst du müde Maus singen?“
Ich lächle und küsse seine Stirn, dann beginne ich zu singen. Leise und ganz nah an seinem Ohr singe ich seine Lieblingslieder, schaukele dabei weiter vor und zurück und streichle seinen Rücken. Unsere Blicke weiterhin gerichtet auf den Weihnachtsbaum, Shane und Bubba Ray, die unermüdlich das große Set beackern.

 

Das Gefühl von Geborgenheit

Für diesen kurzen Moment der absoluten Geborgenheit in meinem Arm steht die Welt still. Und als sie sich weiter dreht und ich die erste Strophe des nächsten Schlafliedes anstimme, wird es mir bewusst. Der Schatz. Das Kostbare. Der Wert dieser Situation. Das, was niemand meinem Kind jemals wieder wegnehmen kann.

Hier auf meinem Schoß liegt ein kleiner Mensch, der gerade einmal 4,5 Jahre hier ist. Ihm fehlen noch jede Menge Erfahrungen mit der Welt da draußen. Die Lieder, die er kennt und die sein kleines Herz als beruhigend abgespeichert hat – es sind die Lieder, die ich ganz gezielt für ihn ausgesucht habe. Dieses Gefühl, hier eingerollt auf meinem Schoß Platz nehmen zu dürfen, ohne zu fragen und ganz sicher ohne zu zögern, das haben wir uns gemeinsam erschaffen. In etlichen Stunden Tröst- und Beziehungsarbeit, in Gesprächen über Regenwürmer und den Weltraum und in vielen Nächten in vollgekotzten Betten und mit kühlenden Wadenwickeln.

D-Von kennt noch nicht viele Strategien um einzuschlafen – die die er kennt, sind jene, die wir Eltern ihm angeboten haben. Es sind die, die wir seit Jahren für ihn gestalten. Das bedingungslose Vertrauen, das er uns entgegenbringt, dass das, was wir tun gut und „richtig so“ ist, meine Singstimme, die in ihm das Gefühl von Sicherheit formt, mein liebevolles Streicheln, das seinen Ruhenerv aktiviert – es ist der vielleicht kostbarste Schatz, den ein so kleiner Mensch einem großen Menschen überhaupt vermachen kann. Dieses kleine eingerollte Bündel in meinem Arm rührt mich damit zu Tränen und mit voller Wucht realisiere ich in diesem Augenblick, welch unglaubliche Verantwortung ich als seine Mama habe: Das hier niemals kaputt zu machen. Weder unsere Beziehung, noch diesen Blick darauf, der mich in diesem Augenblick so sehr erfüllt.

Das nennen wir Liebe

Das nennen wir Liebe

Der schwierige Teil der Aufgabe

Denn gleichzeitig ist er auch das Kind, das morgens um spätestens 5:30 Uhr die Augen aufschlägt und hellwach ist. Dessen kleine, fröhliche Lippen dann einen Punkrock-Klopper grölen, während er dazu Ukulele oder Cajon „spielt“. In diesen Augenblicken halte ich mir die Ohren zu oder krame verzweifelt nach meinen Ohropax und bin SEINER Singstimme und Performance eher wenig wertschätzend zugewandt. So richtig wichtig ist es mir dann aber auch nicht – denn ich bin müde und entnervt von der Party in den frühen Morgenstunden und auch das ist schließlich ein Gefühl, das ich irgendwie kommunizieren muss. Manchmal erfordert es dann alle Kraft, dem Kind nicht zu sagen, wie angepisst ich bin und ihn erschöpft anzubrüllen. Schaffe ich es dann, seine Liebe, sein Vertrauen, das Kostbare an ihm zu sehen und zu verinnerlichen? Ihr wisst es, ich lüge euch nicht an. Nein, das schaffe ich nicht. Aber er. D-Von schafft das.

Obwohl er noch nicht viele Erfahrungen mit der Welt da draußen hat, weiß er schon ganz genau, dass ich morgens knurre, weil ich müde bin und abends singe, weil er müde ist. Und er weiß, dass meine Liebe zu ihm da ist, ihm sicher ist, er sie haben kann, wann immer er will, und zwar alles von ihr – ganz egal ob ich dabei knurre oder singe. Darauf vertraue ich, so sehr wie er mir Vertrauen schenkt. Und das muss ich auch, weil mich alles andere unfrei macht. Verzeihe ich mir selbst die kleinen Fehler und Momente, in denen ich mich vergesse, unachtsam bin und wirklich wenig wertschätzend, so kann er das auch. Und vertraue ich ihm, dass er mich einschätzen und sehen kann, dann traut er mir Gleiches zu. All das erzeugt ein Gefühl von Geborgenheit, nämlich, sich nicht dauernd gegenseitig erklären zu müssen und tatsächlich authentisch zu sein.

Ich verschwende sie, werfe mit ihr um mich, verschenke sie mit offenen Armen, will nichts dafür zurück. Hier gibt es niemals zu wenig Geborgenheit und Liebe und scheissegal, was ich selbst erlebt habe, scheissegal was du oder ich hinter uns haben – wir können das. Es ist ein Befreiungsschlag für uns alle, einfach lieben und uns gegenseitig halten zu dürfen, ohne über Logik, Methode und das „Wie“ nachdenken zu müssen. Kleine Augenblicke voller Vertrauen, das Einschlafen in meinem Arm, der leise geflüsterte Songwunsch und jedes gehauchte „Ich liebe dich, Mama, du Schöne“ – abends bevor die Augen zufallen und morgens um 5:30 Uhr, kurz vor der ersten Einlage „We‘re not gonna take it“.

 

Das nennen wir Liebe

Das Wissen über die Verletzlichkeit meiner Kinder, macht mich demütig. Die Zerbrechlichkeit aller Beziehung und dass all das, all die Liebe, die Zuneigung, die Zugewandtheit nicht selbstverständlich ist. Ich bin dankbar für die Momente, in denen sie mir in ihrem vertrauensvoll zugestehen, tief in diese Liebe zu blicken. Ich will das erhalten, festigen, will ihnen den besten Start in ein Leben ermöglichen, in dem das hier wahrhaftig ist. Und irgendwie auch selbstverständlich. Obwohl es das gleichzeitig nie werden kann.

Was unsere Kinder uns an Vertrauensvorschuss geben, ist unendlich kostbar. Wir dürfen das wertschätzen, ehren, bewahren. Aber wir dürfen es auch mal verkacken! Denn Vertrauen, Liebe und Geborgenheit funktionieren nur in eine Richtung und halten unsere Fehler aus. Nichts davon ist begrenzt oder wird weniger, wenn man es verbraucht. Sich zu lieben bedeutet nämlich auch, sich zu nehmen, wie man ist. In Momenten, in denen dein Herz überläuft vor Liebe und auch, wenn du dich lieber im dunklen Keller verstecken möchtest. Denn die guten Momente, die Liebe und die Geborgenheit, die dehnen sich aus, werden riesig groß und zu einer Ressource. Tief in uns allen und nicht selten durch gegenseitige, authentische Begegnung. Du siehst dein Kind und dein Kind sieht dich – und am Ende
ist es doch genau das, was wir Liebe nennen.

In diesem Sinne: Seid gut zueinander.

Alles Liebe,
Eure Kathrin

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