Hast du dich gefragt, warum dein Baby sich nie ablegen ließ? Wieso es niemals auf den Arm anderer Leute wollte? Warum es schrie und weinte, wenn du den Raum verließt? Wieso die Eingewöhnung bei der Tagesmutter oder in der Kita nicht ohne Tränen klappte? Oder warum dein Kind nicht bei Oma und Opa schlafen wollte, obwohl es doch schon größer war? Vielleicht fragst du dich manchmal, so wie ich, warum dein Kind sich (noch) nicht traut, allein auf den Kindergeburtstagen anderer Kinder zu bleiben. Oder wieso es eigentlich immer bei dir oder deinem Partner/seinem anderen Elternteil bleiben will. Warum es am liebsten mit dir spielt, ständig auf deinen Arm oder deinen Schoß will, am liebsten einfach immer in deiner Nähe wäre.
Trennungsschmerz, Vermissung…
Ich hab mich das gefragt, als Bubba Ray ein Baby war. Er war mein erstes Kind, ich fand alles schwierig – jede Entscheidung. Und egal was ich tat, ich fragte mich im gleichen Atemzug selbst, ob das jetzt „richtig“ war. Ob ich damit wirklich das Beste für mein Kind tat. Ich fragte mich, wieso er niemals in seinem Bettchen schlief, keine Distanz zwischen uns zuließ und auch, wieso es immer wieder Tränen gab – egal wo ich ihn ließ. Streng genommen frage ich mich das heute noch oft. Es verunsichert mich, dass er sich nicht so einfach von mir trennen kann, wie ich mich von ihm.
Und dann hole ich mein Kind, mein vierjähriges Kind, am Nachmittag bei seiner Oma ab, die voller Liebe für diesen kleinen Menschen den ganzen Tag auf ihn aufgepasst hatte, die kuschelt, bastelt, kocht und backt, die tröstet und singt und lacht und Fernsehen gucken lässt – und mein Kind sitzt weinend auf der Bank im Flur. Ich frage ihn, wieso er weint und er fällt mir in die Arme.
….und eine Erkenntnis.
„Ich hab euch vermisst“, sage ich zu ihm. Es kommt alles hoch. Mein schlechtes Gewissen, die Angst die falsche Entscheidung getroffen zu haben, die vielen Fragen: sollte ich weniger arbeiten? Muss ich mehr geben? War ich zu selten da? Habe ich ihn zu lang hier gelassen? Hat er gelitten?
Mein Kind liegt in meinen Armen und sieht mich an. „Weißt du Mama, ich bin einfach ein bisschen traurig, dass wir nicht immer zusammen sein können.“
Innerhalb einer Sekunde füllen sich meine Augen mit Tränen; im Kopf kündige ich alle Verträge, reiße alle Bauten ein um bei meinem Kind zu sein, baue selbst an und verlasse nie mehr das Haus ohne ihn. Doch dann wischt er die Träne weg, bittet mich nicht zu weinen und ergänzt später: „Jetzt bist du ja wieder da und alles ist gut.“
Kinder leben im Moment – in jeder Sekunde
Kinder leben im Moment – in jeder Sekunde. Aber ohne Mama und Papa zu sein bedarf der Fähigkeit, auch an ihre (kurz- und mittelfristige) Zukunft zu denken. Sich immer wieder vorzustellen, dass die wichtigsten Bindungs- und Bezugspersonen gleich wieder kommen. Sich selbst zu trösten aber auch zu vertrauen: darauf, dass die wichtigsten Menschen in ihrem Leben ganz sicher gleich wieder da sind. Als er ein Baby war, konnte er das nicht äußern – aber jetzt kann er es. Ja, ich kann ja selbst kaum zählen wie oft ich mit meinem Mann gemeinsam davon träume, dass er nicht mehr so viel arbeitet und früher Zuhause ist. Dass meine berufliche Situation sich bald so entspannt, dass auch ich einen Gang runter schalten kann. Dass wir alle den ganzen Tag zusammen sein könnten – stressfrei versteht sich.
Alles, was mich von meinem Kind unterscheidet, sind fast 27 Jahre Lebenserfahrung – sonst nichts. Unser Gefühl ist das gleiche. Okay, ein bisschen anders ist es schon, aber ist es so abwegig, dass Babies, deren Mütter ihre ganze Welt sind, nicht freiwillig von ihnen getrennt sein wollen? Dass Krabbelkinder weinend ihren Eltern hinterher hechten, weil sie wissen, dass sie nicht schnell genug sind, um ihre Nähe aufrecht zu erhalten? Dass Kinder nicht gleich nach wenigen Tagen der Eingewöhnung bei Menschen bleiben, die nicht die wichtigsten Menschen in ihrem Leben sind? Nicht die, mit denen sie am allerliebsten ihre Zeit verbringen? Ich finde nicht.
Das gleiche Gefühl, nur anders
Die wichtigsten Lektionen meines Lebens habe ich von meinen Kindern gelernt. Von diesen klugen kleinen Menschen, die so sehr im Moment, so sehr bei sich, so sehr in ihrer Intuition sind, dass sie uns immer die Wahrheit zeigen. Es ist einzig unser Standpunkt, der uns verstehen, nicht verstehen, mitgehen, oder stehen bleiben lässt. Und so lerne ich an diesem Tag, dass Bubba’s Vermissung ja auch meine Vermissung ist. Ich vermisse meine Kinder, wenn sie nicht da sind, rund um die Uhr. Aber das Gegenteil dazu ist nicht, ständig mit ihnen zusammen zu sein. Nein, das ist nicht möglich – nicht in unserem Leben. Denn in meinem Leben gibt es meine Arbeit, die ich liebe und weitermachen möchte, es gibt meinen Ehemann, mit dem ich auch mal alleine Zeit verbringen möchte. Es gibt Freunde und Hobbies, die weder meine Kinder noch mein Mann teilen. Und es gibt Tage und Momente, manchmal sogar ganze Wochen, an denen ich echt so gar keine Lust habe, auf Kinderlieder, Spielen auf dem Teppich oder 10-sekündliches „MAAAAMAAA“-Rufen.
An diesen Tagen sind wir getrennt. Darüber ist Bubba Ray traurig und das darf er sein. Denn ich bin es auch. In einer perfekten Welt gäbe es vielleicht die Fähigkeit, alle diese Bedürfnisse gleichbedeutend zu stillen und unter einen Hut zu bringen. Dann hätte der Tag vielleicht mehr als 24 Stunden und die Rahmenbedingungen wäre andere. Wer weiß. Aber diese perfekte Welt – in der leben wir nicht. Wir vier hier zumindest nicht. Und so bringt mir mein Kind, im Vorbeigehen, wieder eine wichtige Lektion bei: möglicherweise können wir eben nicht immer zusammen sein, darüber darf Traurigkeit und vielleicht auch Verzweiflung sein. Es darf Wut und negative Gefühle geben. Der Ausgleich, der die Welt wieder in ihr Gleichgewicht bringt, ist nicht, ständig zusammen zu sein und dann möglicherweise auf Dinge zu verzichten, die du eigentlich liebst. Nein, der Ausgleich ist: die Erlaubnis, auch negativen Gefühlen ihren Platz zu geben und sie zu trösten. Und weiterzumachen, wo du kurz pausiert hast.
Die Welt in einem Satz
Bubba Ray hat mir die Welt eines Babies und Kleinkindes in einem Satz erklärt. „Ich bin einfach traurig darüber, dass wir nicht immer zusammen sein können“ Trauer darüber, nicht immer zusammen sein zu können und Akzeptanz im gleichen Satz.
Nichtsdestotrotz darf das Gefühl, die Traurigkeit sich trennen zu müssen, immer sein. Immer. Denn diese Gefühle sind unser gutes Recht – von Anfang an:
Als Baby, das nicht allein schlafen will. Als Krabbelkind, das Bewegung nicht schnell genug hinbekommt. Als Mutter, die ihr Kind zum ersten mal woanders lässt. Als Vater, der viel zu wenig mitbekommt. Als Kleinkind, in dessen perfekten Welt die Familie immer harmonisch rund um die Uhr ist.
Und wenn die Phase der Trennung, Vermissung und der Trauer darüber vorbei ist, dann darf wieder einziehen, was wir an unserer Familie, an unseren Kindern, an unserem Leben so lieben: diese Klarheit, das Wissen darüber, dass es nichts Schöneres gibt, als zusammen zu sein.
Alles Liebe,
eure ÖkoHippie.
Eine Antwort
Was für ein kluges Kind. Wahnsinn.
Nachdem ich jetzt alles gelesen habe, fühle ich mich exakt erinnert an ein Gespräch mit Cocos Erzieherin, vor einigen Wochen, als es so schlimm war mit dem Abschied, dass ich mich entschloss, die Kinder zusammen früh zu bringen.
Genau diese Botschaft hatte sie.
Heute gab es zwei Äußerungen meiner Kinder, an die ich auch denken muss. Maple sagte: „Eigentlich schade, dass die Kindergarten-Fahrt jetzt vorbei ist.“
Und Coco nölte auf dem (jetzt ja längeren) Weg zum Kindergarten: „Ohhhh, wann sind wir endlich im Kindergarten? Ich will mit Nora (2) und Tatjana spielen!“ Tatjana ist die Berufspraktikantin, die das ganze Jahr in ihrer Gruppe ist, und als ich sie heute Nachmittag abholte und Maple in der Zeit mit Magen-Darm im Auto wartete, dauerte es ewig, bis wir gehen konnten, weil Coco sich nicht von Tatjana verabschieden konnte. Noch einmal drücken, ihr noch ein Bild zeigen, ihr noch kurz was sagen, ihr noch das Langarmshirt zeigen, das sie angezogen hat, weil das andere nass war …
Wir hatten schon nachmittags Tränen, weil Coco Tatjana so vermisste oder weil sie am Wochenende nicht da ist.
Und das, was meine Kinder vielleicht gerade erfahren, ist das Gefühl, dass man mit Freude gehen kann, um später zurückzukommen, das ist vielleicht noch mehr ein Wunder für die Eltern, deren Kinder nie zu jemand anderen auf den Arm/ins eigene Bett/in die Tagesbetreuung/zum Babysitter etc. gegangen sind.
Ich genieße dieses Wunder in vollen Zügen.
Die Königsdisziplin, die Bubba an- bzw. ausgesprochen hat … auch das wird kommen. Da bin ich ja selbst noch nicht.
Alles Liebe,
Mo