„Der erste Weltenwechsel“ – so wird aus der Eingewöhnung ein Erfolg! Dr. Joachim Bensel auf dem Attachment Parenting Kongress 2016

Dr. Joachim Bensel ist Wissenschaftler der Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen. In seinem Vortrag auf dem Attachment Parenting Kongress 2016 präsentierte er Studien und Forschungsergebnisse der Neuzeit sowie weitreichende, historische, entwicklungsbiologische Erkenntnisse. Er ist Autor umfassender Fachliteratur für pädagogische Einrichtungen und Betreuungsinstitutionen. Aus meinen Notizen habe ich also zusammengefasst, wie sie aussehen muss, die Eingewöhnung bei der Tagesmutter, in Krippe, Kita oder Kindergarten, damit sie auch vom Kind als Erfolg auf der ganzen Linie angesehen wird. Im Folgenden schreibe ich hauptsächlich von Erzieher*innen und der Einrichtung – der Einfachheit halber und weil Bensel genau darauf spezialisiert ist. Das Modell gilt aber gleichermaßen auch für die Eingewöhnung bei der Tagesmutter.

Disclaimer: Mein Artikel dient nicht dazu, den Stand individueller Eingewöhnungsmodelle zu beeinflussen oder zu hinterfragen, sondern fasst lediglich die Inhalte des Vortrages zusammen.

„Der erste Weltenwechsel – wie eine behutsame, elternbegleitete Eingewöhnung außer Haus gestaltet sein sollte, damit ein Kind die Übergangserfahrung als Erfolg verbuchen kann“ – Dr. Joachim Bensel auf dem Attachment Parenting Kongress 2016

 

Dr. Joachim Bensel über die richtige Eingewöhnung

Dr. Joachim Bensel über die richtige Eingewöhnung

 

Der gesellschaftliche Erwartungsdruck an Kinder ist in vielen Bereichen groß. Bereits sehr früh wird an konkreten Beispielen deutlich, dass ein Funktionieren erwartet wird: Kinder sollen möglichst früh möglichst allein in ihren Zimmern ein- und durchschlafen, sich weitestgehend selbst regulieren, sich bei einem steten Überangebot an lockender Nahrung zurückhalten oder in bestimmten Situationen auf Bewegung verzichten. Viele dieser Erwartungen sind für Kinder so wenig verständlich wie – aufgrund ihrer Genetik und der neurologischen wie entwicklungspsychologischen Gegebenheiten – umsetzbar. Ähnliches kann auch bei der Eingewöhnung in die Krippe, Kita oder Kindergarten beobachtet werden. Eltern, die ihr Kind außerfamiliär / außerhäuslich betreuen lassen, wollen ihrem Kind schließlich nichts schlechtes und haben oft auch keine andere Wahl. Dass die Abgabe in der Einrichtung so häufig auf vehementen Widerspruch der Kinder trifft, obwohl doch erwartet wird, dass es dem Kind dabei gut geht, kann – so Bensel – durch eine gewisse Form der Eingewöhnung vermieden werden. Anhand einiger Beispiele und eines konkreten Leitfadens kann die Eingewöhnung nicht nur einfach irgendwann klappen und als beendet angesehen werden, sondern sogar als Erfolg – vor allem seitens des Kindes – verbucht werden.

 

Inhalt

(1) Außerfamiliäre Betreuung aus Sicht des Kindes ⇓
(2) 7 Säulen einer behutsamen, elternbegleiteten und individuellen Eingewöhnung ⇓
(3) Dauer der Eingewöhnung, Beziehungserfahrungen und zeitliche Abfolge im Test ⇓
(4) Aber woran erkennt man sicher und unsicher gebundene Kinder eigentlich? ⇓
(5) Wie reagieren sicher / unsicher gebundene Kinder auf die Eingewöhnung? ⇓
(6) Kohärenzgefühl und Resilienz ⇓
(7) Wie wird der/die Erzieher*in zur neuen Bezugsperson? ⇓
(8) Was kann die Eingewöhnung (negativ) beeinflussen? ⇓
(9) Tipps, die den Trennungsstress erleichtern ⇓
(10)Fazit ⇓

 

(1) Außerfamiliäre Betreuung aus Sicht des Kindes

Das neue Umfeld, auf die das Kind bei der Eingewöhnung trifft, zeigt nicht automatisch von Anfang an seine bereichernden Momente. Es wirkt fremd und nicht kontrollierbar. Die Hauptbindungspersonen (die Eltern) geben das Kind in dieser Umgebung „ab“, diese Trennung und Nichterreichbarkeit führt zu einem stressreichen Kontrollverlusterlebnis, welches das Kind erst schrittweise lernen muss, zu bewältigen.

Bensel geht zur näheren Erläuterung zunächst auf evolutionsbiologische Hintergründe ein:

Im Vergleich: andere Säuglinge. Die Primaten

Ein Primaten-Junges flüchtet bei drohender Gefahr nicht weg vom Gefahr- und Stressauslösenden Objekt, sondern möglichst schnell hin zu seinem Elterntier. Es erwartet dort den effektivsten Schutz. Dieser Instinkt ist ihm angeboren.

Der Mensch: ein „Kollektivbrüter“

Für das Überleben unserer Kinder war schon immer wichtig, dass andere Personen der Mutter bei der Betreuung und Aufzucht helfen. Geschichtlich betrachtet ist ein Menschenjunges quasi noch nie ausschließlich bei den Eltern groß geworden. Diese Entwicklung hatte immer auch zur Folge, dass Kinder zeitweise eben von ihrer Mutter getrennt waren. Nur in einem Pflegeverbund konnte die Menschheit eine derart aufwändige, anspruchsvolle und lange Kindheitsphase überhaupt bewältigen! (Vergleich: Sarah Blaffer Hrdy – „Mütter und Andere“ und auch Herbert Renz-Polster – „Menschenkinder“ (Anm. d. Verf.). Links am Ende des Beitrages)

Diese Erkenntnis zeigt also, dass das genetische Material unserer Kinder ein Großwerden mit vielen Betreuungspersonen sogar vorsieht und es begünstigt. Da unser heutiges, westliches Leben allerdings so sehr auf das Großziehen des Kindes allein durch die Eltern ausgelegt ist, sollte vor allem in speziellen Situationen wie einer Eingewöhnung auf gewisse Gegebenheiten geachtet werden, um die Anpassung an andere Bezugspersonen zu ermöglichen.

 

(2) 7 Säulen einer behutsamen, elternbegleiteten und individuellen Eingewöhnung

1.)  Das individuelle Anpassungstempo des Kindes

Damit das Kind schrittweise und in abgeschwächter Form eine Bindung zu den neuen Mitgliedern dieser nun erweiterten Sozialgruppe aufbauen kann, muss vor allem Zeit gegeben sein. Die neue Beziehung zu Tagesmutter / -vater oder Erzieher*in muss sich erst bewähren. Das geschieht immer auch in Zusammenhang mit den Anforderungen an das Kind, also unter Belastung – auch des Betreuungsalltages. Kindliche Gefühlskonflikte entwickeln sich langsam und ihre Bewältigung in sehr individuellem Tempo. Eine vorher festgelegte Zeitspanne kann – muss aber nicht – destruktiv sein.

2.) Der Umgang mit dem gestressten, bedürftigen Kind

Denn dieser stellt die Beziehungsweichen! Das Kind entdeckt, wie einfühlsam und empathisch seine neue Bezugsperson auf seine Gefühlskonflikte eingeht. Dazu gehört auch herauszufinden, welche Strategie vom Kind am besten angenommen wird. Wann lässt das Kind die Erzieherin / den Erzieher an sich heran, wann blockt es ab? Welche Strategie bewährt sich und schafft Vertrauen? Hier zählen Feinfühligkeit und Geschick.

3.) Frühe externe Regulationshilfe

Über die externe Regulation seiner Gefühle lernt das Kind anfangs, sich selbst zu regulieren. Das kennen wir bereits aus dem Babyjahr: je früher wir einem weinenden Baby Trost schenken, umso schneller wird es sich tendenziell beruhigen können. Dies gilt ebenso für die Eingewöhnung und geschieht über die Bezugsperson, also das Angebot, das diese ihm macht. Wie es dann schlussendlich lernt, selbst mit Stress umzugehen, ist maßgeblich davon abhängig, welche Beziehungserfahrung es bereits in diesem Stadium macht. Eine feinfühlige Begleitung lässt das Kind die Bedeutung seiner Gefühle erfahren und lernen, was es selbst tun kann, um seine Situation und sein Befinden zu verbessern (Selbstwirksamkeit).

4.) Nicht zur frühen Trennungsfähigkeit erziehen!

Stattdessen sollte eine stabile Mutter/Vater-Kind-Bindung als Basis bestehen, auf die das Kind vertraut und auch Vertrauen in die neue Bezugsperson aufbauen kann. Denn darauf wiederum bauen weitere zusätzliche Beziehungen auf, sodass stundenweise auf den Kontakt zu den Hauptbindungspersonen verzichtet werden kann. Das Ziel ist es, diese Zeit zum emotionalen, sozialen und kognitiven Erlebnisgewinn zu machen. Trennungsfähigkeit im eigentlichen Sinne kann man nicht erziehen – sie muss sich über einen bestimmten (individuellen) Zeitraum langsam entwickeln.

5.) Elternbegleitung

Die Elternbegleitung ist ein maßgeblicher Schwerpunkt für das Gelingen. Das Kind hat im Beisein seiner Eltern weniger Stress und ist offener für Kontakt zu Erziehern und Erzieherinnen. Die Eltern haben obendrein das Gefühl, ihr Kind zu begleiten und nicht einfach „abzuschieben“. Die gelungene Eingewöhnung wird bei ihrer Beendigung als erster gemeinsamer Erfolg der Partnerschaft zwischen Eltern und Kind erlebt.

6.) Bezugspersonenorientierung

Die Bezugsperson ist nicht nur fester Ansprechpartner, sondern auch die Person, der die Eltern einen Vertrauensvorschuss geben. Es ist wichtig, bei dieser einen Person Orientierung zu erfahren und so Schritt für Schritt auch Verlässlichkeit. Auch die Erzieher*innen lernen so das Kind genau kennen, wissen, was es braucht, geben Halt und Orientierung. So entsteht eine Beziehung, die sich auch in Konflikten und unter Belastung bewähren kann. Und so kommt es auch in dieser Beziehung zum Erfolg: nämlich, wenn gemeisterte Trennungsphasen gemeinsam durchgestanden werden.

7.) Abschiedsbewusstsein

Das bedeutet: eine klare Trennung, ein eindeutiges Weggehen und ein eindeutiges Wiederkommen mit Rückkehrversprechen. Nicht „einfach gehen“, weg schleichen, davon stehlen, wie es leider häufig gehandhabt wird. Das Kind kann dies als Versehen deuten, es könnte sich unter Umständen vergessen oder verloren gegangen fühlen. Ein klarer Abschied der Mutter vermittelt dem Kind hingegen ihr inneres Einverständnis und das Gefühl, dass sie es für in Ordnung hält, zu gehen, wiederzukommen und dem Kind zutraut, die zeitweise Trennung von ihr zu schaffen.

Fazit: Eingewöhnung ist nicht einseitig und nie passiv. Jede beteiligte Person bringt aktiv seine Bedürfnisse und Ressourcen ein. Das individuelle Tempo des Kindes gibt dabei die Zeitspanne und die Eingewöhnungsphasen und -dauer vor.

 

(3) Dauer der Eingewöhnung, Beziehungserfahrungen und zeitliche Abfolge im Test

Die Dauer einer elternbegleiteten Eingewöhnung lag in einer Berliner Studie von Ahnert et al. 2004 (Bensel) zwischen null und 30 Tagen. Die Begleitung sicher gebundener Kinder dauerte dabei nicht länger als die unsicher gebundener. Es ließ sich aber beobachten, dass die Bindungsqualität in 41% der Mutter/Vater-Kind-Paare wechselte, also von einer sicheren zu einer unsicheren und umgekehrt. Zudem stellte man fest, dass eine längere, langsamere Eingewöhnung mit den Müttern bzw. die nur halbtägige Betreuung dazu führte, dass sicher gebundene Kinder häufiger sicher blieben und unsichere Bindungen sicherer wurden.

 

(4) Aber woran erkennt man sicher und unsicher gebundene Kinder eigentlich?

Sicher gebundene Kinder entdecken und studieren aufmerksam und interessiert ihre Umwelt, decken Geheimnisse auf, entschlüsseln Codes ihrer neuen Umwelt und tun dies mit Ruhe, Begeisterung und ohne unsicheres Verhalten. Sie sind sich gewiss, dass ihnen jemand zur Seite steht, sie beschützt und ihnen Hilfe anbietet, wenn sie diese benötigen. Sie nehmen häufiger Kontakt zu Gleichaltrigen auf, reagieren auf stressvolle Begegnungen mit der Erwartung der Regulationshilfe (also fordern Trost ein, anstatt sich zurück zu ziehen), haben insgesamt weniger Konflikte in der Einrichtung und wenn doch, dann mit der Erfahrung, dass sie ebendiese eigenständig und ohne das Zutun Erwachsener lösen und bewältigen können (Quelle: Bensel / Suess)

 

(5) Wie reagieren sicher / unsicher gebundene Kinder auf die Eingewöhnung?

Sicher Gebundene Kinder zeigten in einer Studie bei Betreuungsbeginn deutlich mehr negative emotionale Äußerungen, dafür aber weniger physiologische Stressanzeichen. Unsicher gebundene Kinder zeigten sich auch nach Monaten noch verschlossener und erschöpfter. In der Eingewöhnungs-Startphase stieg der Cortisollevel sicher gebundener Kinder nicht an. Sie nutzten die Mutter als sichere Basis und „Stresspuffer“. Erst bei der Trennung stieg der Spiegel auf den gleichen Wert wie der unsicher gebundener Kinder an. Stress hingegen zeigten alle Kinder, was bedeutet, dass die Eingewöhnung erst einmal für alle Kinder als „Stress“ empfunden wird. Erst 5 Monate nach Betreuungsbeginn war der Cortisollevel deutlich gesunken, blieb aber dennoch über dem Wert, den die Kinder zeigten, wenn sie Zuhause blieben.

Trennung stresst, löst negative Gefühle aus – und zwar immer. Eben auch, wenn das geliebte Elternteil morgens zur Arbeit muss und das Kind Zuhause bleiben und es nicht begleiten kann. Der entscheidende Punkt der Eingewöhnung ist, diese Emotionen für das Kind kontrollierbar zu machen und einen Umgang damit zu erlernen. Ein positiver Stresseffekt kann sein, geeignete Verhaltensreaktionen zu erlernen, die den Stress beseitigt oder unterdrückt. Stress – an dieser Stelle zitiert Bensel Gerald Hüther  – sei erst dann wirklich gefährlich, wenn „die Belastungen so groß werden, dass keine Anpassung möglich, keine Lösung gefunden werden, Angst- und Stressreaktion nicht durch die Mobilisierung der zur Verfügung stehenden Ressourcen bewältigt werden kann“.

 

(6) Kohärenzgefühl und Resilienz

Kohärenzgefühl beschreibt Bensel als inneren und äußeren Halt, das Vertrauen darauf, dass die Anforderungen des Lebens strukturiert sind, dass man nötige Ressourcen hat, um denen gerecht zu werden und es sich lohnt, die Anforderungen als Herausforderung anzusehen.

Dieses Kohärenzgefühl stärkt Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein eines Menschen und die gute Nachricht ist: es kann durch eine behutsame Eingewöhnung sogar gestärkt werden. Bensel stellt dazu folgende drei Anforderungen:

1.) Verstehbarkeit

-> also die Konstanz von alter und neuer Bezugsperson, die Klarheit, dass die Trennung der Hauptbindungsperson nicht Alleinsein und Verlorensein heißt, sondern dass jemand da ist, an den ich mich mit meinen Bedürfnissen wenden kann

 

2.) Handhabbarkeit

-> also ein zu bewältigender Anpassungsstress, der nicht psychisch und physisch überfordert. Das Tempo bestimmt das Kind!

 

3.) Bedeutsamkeit

-> die Eingewöhnung als Erfolg anzusehen, bedeutet für das Kind einen großen und wichtigen Entwicklungsschritt. Es verstärkt sein Selbstbewusstsein und weitere geistige Fähigkeiten. Die Eingewöhnung sollte also immer eine große Bedeutsamkeit haben, nicht „irgendwie“ ablaufen und fokussiert und wertschätzend sein.

 

Resilienz fasst Wikipedia wie folgt zusammen: es ist die innere Stärke und psychische Widerstandsfähigkeit und damit die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönlich und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für die eigene Entwicklung zu nutzen. Kurz: vermeintlich negative Erfahrungen werden zu eigenen Gunsten, also für eine persönliche Weiterentwicklung, genutzt, eine innere Widerstandsfähigkeit lässt den Menschen nicht an negativen Erlebnissen „zerbrechen“.

Es kann also ein Schutzfaktor sein, dass das Kind in der Lage ist, zu zeigen, dass ihm nicht gut geht. Es ist ein Zeichen seiner Resilienz, dass es mehr Zuwendung und Regulationshilfe braucht, um sich beruhigen zu können. „Nicht, wer beim Abschied von der Mama nicht weint, kein Theater macht, ist automatisch resilient!“, betont Bensel auf der Bühne.

 

(7) Wie wird der/die Erzieher*in zur neuen Bezugsperson?

Kinder übertragen grundsätzlich ihre bisherigen Bindungserfahrungen auf die Beziehung zu Erzieher*innen und Gleichaltrigen. Für das Kind wird ein Mensch erst zur Bezugsperson durch einen längerfristigen Prozess. Allein die Verantwortlichkeit und Zuständigkeit reicht nicht aus. Da Kinder unterschiedliche Formen der Zuwendung und Regulationshilfen benötigen, um sich nach heftiger Erregung wieder beruhigen zu können (z. B. mag nicht jedes Kind Körperkontakt), muss auch ein Kennenlernen stattfinden. Bensel empfiehlt ein eigenes Einstiegsritual zwischen Erzieher*in und Kind zum Ankommen in die Gruppe. Beobachtungen zeigten, dass die Ankunftssituation in Bewegung (laufend oder auf dem Arm) leichter zu bewältigen sei. Dabei spielt vor allem die durch das Kind selbst gesteuerte Nähe-Distanz-Regulation eine entscheidende Rolle – anfänglich bei den Eltern, später auch bei der/dem Erzieher*in, also: wann zeigt das Kind, dass es bereit ist, sich der Nähe zu entziehen und die eigenen Schritte zu gehen? Bis zu den eigens gesteuerten Anzeichen des Kindes sollte die Regulationshilfe gegeben sein.

Die Unterstützung der Erzieher*innen sei entscheidend, schließlich sind sie die neuen Bezugspersonen! In Stresssituationen wie dem morgendlichen Ankommen gilt es, die Bewältigungsstrategien des Kindes zu erkennen und zu fördern bzw. gemeinsam neue zu entwickeln. Erst das darauf aufgebaute Vertrauen macht aus einer/einem Erzieher*in eine neue Bezugsperson.

Ein Ritual in Bewegung kann also durchaus der Spaziergang durch die Einrichtung sein. Dabei geht es nicht darum, das Kind abzulenken, sondern ein „rückerinnerndes Wiederanknüpfen“, wie Bensel es nennt, an den gestrigen Tag in der Kita zu schaffen. Das Kind fühlt sich heimisch. Es erinnert sich an die empfundene Freude und auch an das zuverlässige Wiederkehren der Eltern. In einer anknüpfenden Grafik zeigt Bensel, dass auch das Alter darauf Einfluss nimmt, wie gut und schnell Kinder ihre Erzieher*innen als neue Bezugspersonen annehmen. In der Altersgruppe der 5-8 Monate alten Kinder waren es lediglich 50%, bei den über Einjährigen 91%.

 

(8) Was kann die Eingewöhnung (negativ) beeinflussen?

Der Beitrag, also die Zugabe des Kindes, spielt für den Erfolg oder Misserfolg eine maßgebliche Rolle – dabei natürlich auch das Temperament des Kindes. Gleichermaßen der Beitrag der Eltern: Wie feinfühlig sind sie? Geben sie volles inneres Einverständnis oder haben sie selbst innere Zweifel?

Wie feinfühlig ist der/die Erzieher*in? Wie ist der Betreuungsschlüssel? Gibt es die Zeit, das Tempo ganz nach dem Kind auszurichten? Wie groß ist die Gruppe, wie viel Spielfläche gibt es und wie reagiert mein Kind auf Lautstärke, Platzangebot, Gruppengröße, Gleichaltrige?

 

(9) Tipps, die den Trennungsstress erleichtern

Abschließend fasst Bensel die Erkenntnisse zusammen, listet auf, dass der erste Weltenwechsel eben funktionieren und als Erfolg für Kind und Eltern verbucht werden kann, wenn die Säulen beachtet und ein individuelles Tempo geschaffen wird. Natürlich könne aufgrund vieler Faktoren nicht immer punktuell so verfahren werden. Oft fehlt die Zeit, aufgrund des sehr engen Betreuungsschlüssel und der tatsächlichen Bedingungen in Kitas. Das ist ein strukturelles Problem und sicher nicht durch den eigenen Beitrag des pädagogischen Fachpersonals allein zu lösen. Er plädiert daher auch für das Verständnis der Eltern, dass in der Realität nun nicht jedes Eingewöhnungsmodell ganz flexibel umgesetzt werden kann. Mit einigen wenigen Tipps kann das Ankommen und der Trennungsstress für die Kinder jedoch reduziert werden, auch wenn nicht nach wenigen Wochen eine erfolgreiche Eingewöhnung stattgefunden habe:

 

1.) Selbst initiierte Loslösung der Bezugsperson in die Einrichtung

Das bedeutet, dass das Kind eben genau so lang Regulationshilfe, Unterstützung seiner Stressregulation, Aufmerksamkeit, Zuwendung, Nähe erfährt, die es individuell benötigt, bis es sich von selbst aus dem Schutz der/des Bezugserzieher*in lösen kann. Es erfährt Selbstwirksamkeit, wenn es von allein und in seinem Tempo dann in den Kita-Alltag eintauchen kann, wenn es sich bereit fühlt – und bis dahin in seiner Bedürftigkeit ernst genommen wird.

 

2.) Halbtagesstart: keine Mittagsschlafanpassung zu Beginn

Über einen gewissen Zeitraum, der nicht nach Modell, sondern nach Fortschritt des Kindes festgelegt wird, das Kind vor dem Mittagsschlaf abgeholt wird. Erst nach der eigens benötigten Zeit kann der Schlaf in der Einrichtung vollzogen werden

 

3.) Übergangsobjekte

Also zum Beispiel Kuscheltiere, Musik, Spielzeuge etc., die den Übergang verschönern. Es hilft den Kindern, sich an diese Dinge zunächst zu „klammern“. Sie sind kein Ersatz, erleichtern den Übergang allerdings stark. Hilfreich kann auch ein Fotobuch sein, mit Bildern der Eltern und Geschwister, die das Kind sich ansehen kann, wenn es traurig wird.

 

4.) Eingewöhnungsbeobachtungen

Beobachtungen der Entwicklung des Kindes durch die Bezugsperson, die Aufschluss gibt über den aktuellen Stand und den Fortschritt. Das regelmäßige aktive Hinterfragen der Situation bietet Raum für Veränderungen und Verbesserungen.

 

Dr. Joachim Bensel fügt schließlich noch an, dass bei den Eltern auch Verständnis für einen alternativen Spielraum geweckt werden muss. Gestaffelte Aufnahmen am Morgen können entzerren und außerhalb des Bring-Trubels für eine Entschleunigung sorgen. Gleichwohl kann – bei einigen Kindern – auch eine Eingewöhnung am Nachmittag von Vorteil sein. Es gilt, das „Arbeitsmodell“ des Kindes unter die Lupe zu nehmen, also zu sehen, was es selbst mit einbringt, wer es ist und welche Beziehungserfahrungen es bereits gemacht hat. Diese Erkenntnisse in Zusammenhang mit den oben genannten Säulen bieten die optimale Basis.

 

(10) Fazit

Die Realität in Krippen, Kitas und Kindergärten sieht bisweilen anders aus (ihr konntet es vergangene Woche HIER im Gastbeitrag von Wiebke lesen) – hier herrscht Aufholbedarf. Eltern besonders sensibler Kinder, wie ich oder auch Tina, die HIER darüber schrieb, tendieren aufgrund dieser Tatsachen eher dazu, die Kinder Zuhause selbst zu betreuen. Auf der einen Seite verständlich doch auf der anderen Seite bleibt immer die Frage, ob man dem Kind damit nicht etwas vorenthält?

Bensels Message ist deutlich: Werden alle diese Säulen einer individuellen Eingewöhnung möglichst sorgsam eingehalten, wird das Kind – selbst wenn mal Tränen fließen – diesen ersten Weltenwechsel als einen Entwicklungserfolg verbuchen. Das Wichtigste dabei sei, schließt Bensel seinen Vortrag ab, dass genau jener Übergang von der reinen Familienwelt in die Familienwelt plus zusätzliche außerfamiliäre Betreuung gut vorbereitet und konsequent begleitet ist.

So gelingt die Eingewöhnung und bietet dem Kind den besten Start in einen angenehmen, geborgenen und aus eigener Kraft zu bewältigenden Krippen-, Kita- und Kindergartenalltag.

 

Vielen Dank an Dr. Joachim Bensel für den interessanten und spannenden Vortrag.

Der nächste Attachment Parenting Kongress findet 2018 statt. Hier geht’s zur Website *klick*

 

 

Literatur zum Thema*:

Dr. Joachim Bensel: Kinder beobachten und ihre Entwicklung dokumentieren
Dr. Joachim Bensel & Gabriele Haug-Schnabel: Raumgestaltung in der Kita (kindergarten heute. praxis kompakt)
Prof. Dr. Armin Krenz & Dr. Joachim Bensel: Psychologie für Erzieherinnen und Erzieher: Grundlagen für die Praxis. Fachbuch
Dr. Joachim Bensel & weitere: Qualität für alle – Wissenschaftlich begründete Standards für die Kindertagesbetreuung
Dr. Joachim Bensel & weitere: Kinder unter 3 – Bildung, Erziehung und Betreuung von Kleinstkindern
Sarah Blaffer Hrdy: Mütter und Andere: Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat
Herbert Renz-Polster: Menschenkinder: Artgerechte Erziehung – was unser Nachwuchs wirklich braucht

 

Eine Liste seiner Bücher und Projekte findet ihr auch hier

 

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3 Antworten

  1. Vielen herzlichen Dank für die tolle ausführliche Zusammenfassung. Der Titel ist wirklich schön, zeigt die Bedeutung aber auch die Entwicklungschancen, die in dem Schritt liegen.

  2. Erstmal danke dir für diesen ausführlichen Artikel! Sehr spannend…
    Ich finde uns gerade nur nirgendwo wieder;) Wir haben den zweiten Tag der Eingewöhnung hinter uns…und sind wohl durch. Ich fragte meine (fast dreijährige) Tochter heute ob sie alleine in der Gruppe bleiben möchte, ich würde heute einen Kaffee auf dem Flur trinken. Nach zwei Stunden durfte ich eine völlig ins Spiel vertiefte Tochter „abholen“. Sie wollte gar nicht mit, war dann aber beruhigt, als wir ihr sagten, dass sie morgen wieder kommen darf. Verrückt, oder? Ich hab ehrlich gesagt mehr damit zu kämpfen und muss mich bemühen nicht andauernd nachzuhaken: „Ist das wirklich ok für dich? Geht es dir gut? Kann ich morgen wirklich wieder raus? usw…“ So richtig fassen kann ich es nämlich nicht…
    Da sieht man aber wie unterschiedlich Kinder sein können: Der Wunsch in den Kindergarten zu gehen kam ja aber tatsächlich auch von ihr.
    Ganz liebe Grüße
    Bianka

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