„Ernst des Lebens! Jetzt müsst ihr euch umstellen!“ So oder so ähnlich tönt es all überall wenn du dein Kind einschulst. Hände werden geschüttelt, es wird umarmt, der Knirps mit diesem riesigen Schulranzen und der grotesk überdimensionierten Schultüte steht bereit zum obligatorischen Erinnerungsfoto. Mit Zahnlücke. Das gehört so. Schule. Gottesdienst, Segnung, neue Klamotten.
Seine kleine Schwester sitzt gewohnt entspannt auf meinem Schoß und lässt gelassen zu, dass ich mich an ihr festklammere. Alles rauscht an mir vorbei, in meinem Kopf ist wieder dieses dumpfe Dröhnen auf das ich mich konzentrieren kann, damit die vielen gleichzeitig empfundenen Gedanken, die vielen ununterbrochen und komplett parallel gedachten Gedankenstränge mein Hirn nicht zum Not-Aus zwingen.
Alle sind aufgeregt, Großeltern und Paten mit dabei, über 60 Kinder. 35 Grad in diesem krassen Sommer 2018. Aufrufen der Klassen, dann marschieren sie los, im Gänsemarsch hinter der Lehrerin her. Er hat sich kurz umgedreht, gezögert hat er aber nicht. Weg ist er. Ab ins Klassenzimmer.
Setzen, Hefte raus. Erste Stunde – ever.
Ich bin die Mama. Mein Herz zerspringt und ich will nach vorne springen und ihn da herausreißen, meinen kleinen Jungen. Will laut STOPP rufen – Bitte gebt uns noch ein Jahr! Ich bin noch nicht soweit!
Aber ER ist soweit. Ich weiß es, mein Herz spürt es. Mein Großer.
Ich bin hochsensibel. Ich bin Mutter. Mein Sohn ist hochsensibel. Yeah! Jackpot. Naja, zumindest manchmal.
Seit 6 Wochen geht mein Großer nun in die Schule. Die Sorge um seine besondere, seine zarte Seele hat sich für mich noch nicht gelegt. Wir wussten, dass die Umstellung schwer werden würde. Die Wucht der Anfangsschwierigkeiten hat uns dennoch überrascht.
„Das Kind guckt viel in der Gegend rum.“ – „Er konzentriert sich nicht besonders lang. Braucht dauernd Motivation.“ – „Immer wieder will er außerhalb der Pausen auf die Toilette gehen.“ – Auf dem Schulhof geriet er schon in eine Klopperei. Unzählige Male haben wir ihn und seine Kumpels auf halben Nachhauseweg aufgesammelt. Sie hatten einfach Spannenderes zu tun als direkt nach Hause zu gehen… Und wir Eltern sorgten uns, dass sie diesmal am Ende vielleicht doch verloren gegangen sind.
Da ist er wieder, mein alter, treuer Begleiter: der nagende Zweifel…
Ist die Regelschule das richtige für ihn? Die Ganztagsbetreuung vielleicht einfach zuviel? Soll ich meine Arbeitszeit weiter einschränken? Hätten wir ihn besser vorbereiten können? Alles total normal. Ja, ich weiß. Ich kann das auch lesen, wenn ich noch einmal zurückscrolle. Klingt nicht so unnormal.
Fühlt sich aber an wie damals. Als dieses so innig gewünschte Kind nach einer so furchtbar anstrengenden Schwangerschaft und einer wahrhaft traumatischen Geburt endlich da lag. Also, auf mir. Denn neben mir oder gar in irgendwelchen Klinik-Glas-Schiebe-Baby-Betten lag er quasi nie. Das fühlte sich alles nach so viel zuviel an. Das Stillen tat weh, das Liebesfeuerwerk blieb aus, ich war so unfassbar müde, so überrumpelt.
Ja, auch das hat sich alles eingependelt. Ich habe mich unsterblich verliebt in diesen wundervollen kleinen Menschen. Irgendwann lief das mit dem Stillen, irgendwann konnte ich wieder ohne Baby aufs Klo gehen, tatsächlich lag er auch mal im Kinderwagen, nach ein paar Monaten. Und plötzlich wollte er sogar in seinem eigenen Bett schlafen. Da war er doch erst 3,5 Jahre alt… Das kam alles von selbst. Meistens zeitgleich mit der Ankunft meines alten, treuen Begleiters, dem nagenden Zweifel.
Heute wie damals bin ich hin und her gerissen zwischen tief empfundenem Vertrauen in die innere Stärke dieses Kindes und der Angst um seine verletzliche Seele.

Einschulung bedeutet auch: eine neue Ära. Wie sich das anfühlt, merken wir hier gerade in jeder Pore.
Doch, ist das überhaupt sein Problem? Also, hat ER überhaupt ein Problem?
Wahrscheinlich ist es meins. Ich darf es dann wohl auch bei mir behalten. Was mache ich aber jetzt damit? Mit diesem Problem, das so ganz meins ist. Wie halte ich das von ihm fern, schließlich bin ich ja so eine von diesen selbstreflektierten AP-Müttern. Ich weiß ja, das überträgt sich alles. Es beeinflusst ihn – und in diesem Fall könnte es ihn unsicher machen. Authentisch wollen wir ja aber auch sein. Also tue ich nicht super-entspannt, wenn ich es nicht bin. Aber dann verunsichere ich ihn doch wieder… Schon klar. Mein Hirn steht kurz vorm Überlastungs-Aus.
Dann, an einem Nachmittag wieder einmal einer dieser epischen Wutanfälle. So einen hatten wir schon lange nicht mehr. Mein Sohn schreit so laut, dass sich seine Stimme überschlägt, sein schönes Gesicht ist völlig verzerrt. Kaum wieder zu erkennen. Was sind das denn für Schimpfworte?! In meinem Kopf klopfen alte Glaubenssätze an „So geht das nicht, er kann sich doch nicht benehmen wie die Axt im Walde! So langsam muss er sich mal beherrschen können.“ Noch in dem Moment da ich auch das klug reflektiere und mir seine Aggressionen mit Überkooperation erkläre, höre ich eine weitere Stimme brüllen.
Huch. Das bin ja ich…! Ich bin er, er ist ich. Was soll das? STOPP! So will ich das nicht.
Meine Impulskontrolle funktioniert schon. Ich bin erwachsen. Von mir kann man das verlangen. Also atme ich. Vor allem Aus. Bis da in meinen Lungen genug Platz ist für neue, frische Luft. Ich setze mich hin und warte ab. Bin bereit, bereit für den Moment, da er mich wieder an sich heranlassen kann. Nein, ich schicke ihn nicht weg, ich schließe ihn nicht aus, lasse ihn nicht allein. Denn ich liebe ihn auch jetzt, auch wenn er sich so „schlecht benimmt“.
Der Sturm legt sich. Die erlösenden Tränen kommen. Endlich darf ich trösten. Endlich kann er wieder hören was ich sage. Kann meine Entschuldigung verstehen, für die Schreierei.
Die Wut ist raus. Der Druck ist weg. Bahn frei für einen fröhlichen Abend. So funktioniert Selbstfürsorge also für einen hochsensiblen Schulanfänger. Verblüffend einfach. Verblüffend effektiv.
Irre anstrengend für uns Eltern.
Ab und an schlüpft er ja jetzt wieder ins Familienbett, da darf ich dann seine Hand halten. Zwischen Traum und Wachen ist er noch ganz klein, weich und lässt sich in meine Arme fallen. Lässt ganz los und tankt auf – mich und sich.
Morgens geht’s dann wieder weiter. Mit allen Widrigkeiten, auf ins nächste Abenteuer. Mit lästigen Hausaufgaben die nur unnötige Zeitverschwendung sind. Aber der Rest, diese Freiheit die für ihn mit der Einschulung einhergeht – die ist grandios.
Wurzeln hat er. Jetzt trainiert er seine Flügel…
ER ist soweit.
Ich werde es wohl niemals so ganz sein.
2 Antworten
Sooo toll geschrieben
[…] dem Blog der Öko-Hippie-Rabenmütter gibt es unter “Vom Loslassen und Einschulen” einen Artikel über die Gedanken einer Mutter am ersten Schultag ihres Kindes. Über […]