Hochsensible Kinder – Das Interview mit Dagmar Neubronner vom Hochsensibilitätskongress 2016

Im Februar lief der Hochsensibilitätskongress 2016, ein kostenloser Online-Kongress, auf dem insgesamt 20 Experten zu diversen Themen zu Wort kamen und in Interviews, die je ca. eine Stunde dauerten, ihr Wissen verpackten. In den Videos sprachen die Veranstalter in einer Art Konferenz mit dem Experten, stellten Fragen und auf diskutierten zu verschiedenen Themenbereichen. Ich selbst nahm teil, da ich mein hochsensibles Kind besser verstehen und auf die Gesellschaft vorbereiten können möchte. Und tatsächlich habe ich so viel aus nur einem einzigen Interview mitgenommen, dass ich es heute mit euch teilen möchte.

Am Kongresstag 5 konnte ich das Interview mit Dagmar Neubronner verfolgen. Die Beschreibung ihrer Person im Kongressprogramm möchte ich zitieren:

Dagmar Neubronner ist Biologin, Heilpraktikerin, Publizistin, Journalistin und bekannt als „Mutter Deutschlands bekanntestem Schulverweigerer“ und Leiterin des Neufeld-Instituts. Dagmar Neubronner berichtet in dem Interview über ihre Erfahrungen mit ihrem hochsensiblen Sohn und auch aus Perspektive des Neufeld-Ansatzes (einem entwicklungszentriertem), über die Anlagen, Bedürfnisse und das Potential hochsensibler Kinder.

Im Interview erfahre ich, dass ihre Kinder heute 16 und 18 sind, beide Freilerner und dass der Ältere der beiden gerade sein Abitur abgelegt hat. Aufgrund der Hochsensibilität ihrer Kinder, die sich allerdings unterschiedlich äußert, habe sie sich vor 10 Jahren entschieden, ihnen ein Lernen und Reifen ohne Schule zu ermöglichen.

 

Inhalt

(1) Hochsensible Kinder: eine ganz besondere Spezies Kind ⇓
(2) Hochsensible Kinder in Kita, Schule und unserer Gesellschaft ⇓
(3) Wie funktioniert das hochsensible Gehirn? ⇓
(4) Defensive Bindungsabwehr ⇓
(5) Maßnahmen zur Abwendung drohender Überstimulierung und Stressabbau ⇓
(6) Bestmögliche Bedingungen und Ausgleich für das Kind schaffen ⇓
(7) Herausforderungen des Alltags ⇓
(8) Die Rolle der Eltern ⇓
(9) Fazit⇓

Hochsensible Kinder: eine ganz besondere Spezies Kind

Dagmar Neubronner beschreibt hochsensible Kinder als „Orchideen-Kinder“, da sie so sensitiv und besonders sind. Sie vergleicht: es gäbe nun mal Blumen, die man bereits im März nach draußen setzen könne, denn ein „bisschen Bodenfrost mache denen auch nichts aus“ und wiederum andere Blumen, die frühestens im lauen Mai heraus dürften und selbst dann noch den Schutz einer Glasglocke bräuchten. Und genau darauf geht sie im weiteren Verlauf des Interviews ein: auf das „Mehr“ an Zeit, das diese „Orchideen-Kinder“ benötigen. In einer verhaltenspsychologischen Untersuchung, also einer klassischen zum Beispiel ärztlichen Untersuchung, wäre das Ziel herauszufinden, was getan werden müsse, damit diese Kinder sich „normal“, also gesellschaftlich angepasst, verhalten. Doch ihr Ansatz und Wunsch sei es, die Hochsensibilität nicht zu pathologisieren, sondern als Gabe zu nehmen und eben nicht als Krankheit. In ihrem Neufeld-Institut behandle sie daher mit Klienten den entwicklungspsychologischen Ansatz, stelle sich und „Betroffenen“ also die Frage: Warum verhält sich das Kind so, wie es sich verhält und wie kann ich ihm helfen, sich selbst zu verstehen, mit seinen Gefühlen und seiner Hochsensibilität umzugehen und nicht durch Anecken und negativem Auffallen die Lust am Leben verlieren?

Die Frage lautet: wie könnte eine Gesellschaft sein, wie muss sich eine Familie verhalten, in der „Orchideen-Kinder“ ihr Potenzial voll entfalten können?

Dagmar Neubronner übrigens hat keins ihrer Kinder je testen lassen. Das sei gar nicht nötig gewesen und hätte auch nichts geändert, sagt sie. Viel wichtiger sei es, unsere Bewertungsstruktur in Frage zu stellen. Das hochsensitive Gehirn filtere Dinge heraus, was nicht hochsensible Menschen ausblenden. Andersrum bagatellisieren normalsensible Menschen Dinge, die für hochsensible Menschen eine große Bedeutung haben können. Die Gesellschaft legt also fest, was relevant sei und was nicht. Wir versuchen zu bewerten, wie gut man sich als Mensch in die bereits bestehende Gesellschaft einfügen könne. Doch dafür seien hochsensitive Menschen nicht geschaffen, sagt sie weiter.

 

Hochsensible Kinder in Kita, Schule und unserer Gesellschaft

Sie zieht einen Vergleich: wenn ein hochsensibler Mensch zum Beispiel ein Lamborghini sei, dann sei es nun mal seine Gabe, ganz wunderbar 250 km/h auf der Autobahn fahren zu können. Würde er aber von einem Landwirt auf seine Fähigkeit, über einen Acker zu fahren, bewertet, so sei er in den Augen des Landwirts nichts weiter als ein schlecht funktionierender Traktor.

Wenn man den Hintergrund der Probleme, die vor allem hochsensitive Kinder in Kita, Kindergarten und Schule haben, nicht kennt, dann denkt man, man könne solche Situation „trainieren“, sagt sie. Tatsächlich aber sind solche Einrichtungen für hochsensible Kinder ein überdurchschnittlich anstrengender Ort, denn:

  • Es ist praktisch ständig laut
  • Es halten sich viele andere Menschen dort auf, es gibt nur wenig Rückzugsmöglichkeit
  • Viele Eindrücke und Reize für das Gehirn, wenige Pausen
  • Man muss auf den Lehrer achten und zuhören, bzw. im Kindergarten den Regeln der Erzieher folgen
  • Geschlossene Räume
  • Viele, teils unangenehme Gerüche

Ein hochsensibles Kind zeigt schnell und oft Überforderung mit diesen Strukturen. Anstatt auf die sensible Wahrnehmung und Empfindung der Kinder einzugehen und ihnen einen ruhigeren und reizarmeren Raum zu schaffen, unterstellt man ihnen Boykott und Tyrannei. Und so stünden hochsensible Kinder in unserem bestehenden System häufiger eher mit einem Bein in der Sonderschule und mit einem Bein in der Psychiatrie, anstatt anzuerkennen, dass ihre Wahrnehmung einfach um ein Vielfaches verstärkt ist und die Umwelt oft unerträglich.

Und wieder macht sie einen unglaublich interessanten Vergleich: sie stelle sich die Hochsensibilität ihres Sohnes vor, wie einen Kopfhörer, der permanent viel zu laut eingestellt ist, den man aber nicht so ohne weiteres absetzen könne. Durch diese Lautstärke hindurch zu leben und zu funktionieren ist eine frustrierende Überforderung. Kinder, deren Impulskontrolle zum Beispiel noch nicht so stark ausgeprägt ist, also vornehmlich Kinder unter 6 Jahren, verlieren dann sehr schnell die Beherrschung. Sie reagieren, wie sie nur reagieren können: durch Frust und oft auch Aggression. Schon beginnt eine Spirale, oder ein Teufelskreis. Der Lehrer oder Erzieher ist beleidigt, dass das Kind nicht „mitmacht“ oder funktioniert, appelliert an die Eltern, diese Situationen noch intensiver zu trainieren, damit es eben bald funktioniert und endlich angepasst ist. Doch zurück zum Kopfhörer, der weiterhin laut auf das überforderte Kind einwirkt – denn Hochsensibilität, das sagt sie auch, kann man nicht einfach an- und ausschalten – der ist noch da. Und stressige Situationen, die einengen und überfordern, durch den Lärm hindurch noch üben zu müssen, ist nichts weiter als eine Qual. Und damit rät sie ab davon, Situationen zu trainieren und Kinder, die ein Unwohlsein und eine Überforderung mit der Betreuungseinrichtung signalisieren, nicht durch wochen- und monatelanges Training noch zu quälen. Wohlgemerkt: das Training ist nicht gleichzusetzen mit der Eingewöhnungsphase. Solche Anzeichen zeigen sich erst später im Alltag.

In unserem bestehenden System ist es jedoch normal für Tagesmütter, Erzieher und Lehrer geworden, dass Kinder weinen und rebellieren. Erziehungskonzepte und Systeme sollten dafür sorgen, die Masse unterschiedlicher Charaktere und Persönlichkeiten so zu formen, dass alle mitmachen, funktionieren. Doch es sind die Umstände, die passend gemacht werden müssen, nicht das Kind. Es gibt nicht den einen richtigen Weg, aber viele verschiedene Lösungsansätze, einem hochsensiblen Kind ein Leben zu erschaffen, indem es nicht der Aussätzige, nicht der Exot ist, sondern ein Mensch mit einer feinen Gabe.

 

Wie funktioniert das hochsensible Gehirn?

Sie erklärt, dass es nur drei Wege gibt, um das Gehirn vor negativen Eindrücken zu schützen:

  1. Wahrnehmung ausblenden (Menschen, die offensichtliche Signale nicht mitkriegen oder nicht mitkriegen wollen; ausblenden und verdrängen)
  2. Gefühle betäuben (Tendenz zur Anti-Haltung, der „alles egal“-Haltung, einer coolen Haltung)
  3. Keine Nähe suchen, keine Nähe zulassen, zu dem, der uns verletzen könnte, auf Distanz gehen, beleidigt sein oder schimpfen, Einzelgänger, Eigenbrödler.

Dem hochsensiblen Kind stehen lediglich 2 dieser 3 Optionen zur Verfügung, denn einfach seine Wahrnehmung ausblenden kann es nicht. Darin liegt auch der Kern der Hochsensibilität: Der Filter für die Reize, die auf das Gehirn treffen, ist ein anderer und das hochsensible Gehirn ist weniger geschützt. Daher sprechen so viele Menschen von einer „Filterstörung“ oder gar „Filteranomalie“ – Begriffe, die sie ablehne. Würde hochsensiblen Menschen also die Möglichkeit gegeben sein, ihre Wahrnehmung einfach auszublenden, wären sie auch automatisch nicht mehr hochsensibel. Variante 1 der drei genannten steht ihnen also nicht zur Verfügung. Reize, Eindrücke, Launen, Gedanken prasseln ungefiltert auf das Gehirn ein – ob man das nun möchte oder nicht.

 

Defensive Bindungsabwehr

Das hochsensible Kind kann sich nun also nur emotional panzern oder in eine Anti-Haltung verfallen, beleidigt oder in sich verschlossen sein. Sie nennt das „Defensive Bindungsabwehr“. Wohlgemerkt: hierbei geht es um akute Situationen, also solche, die das Gehirn überfordern. Hochsensible Menschen gelten als sehr empathisch und liebevoll, eben weil sie so sensitiv auf Mitmenschen eingehen. Doch bei einer drohenden Überstimulierung oder Überreizung sind diese Wege Schutzmaßnahmen. Ein zur Überstimulierung neigendes Kind reagiert nun also beispielsweise mit völligem Desinteresse auf seine Umwelt, schottet sich ab. Es signalisiert, es wolle nichts mit anderen um ihn herum zu tun haben. Tatsächlich aber, so Neubronner, stimme das ganz und gar nicht. Es ist sogar nicht unwahrscheinlich, dass hochsensiblen Kindern noch mehr an guter Gesellschaft liege, als anderen. Man merke es ihnen nur nicht an, da sie sich bereits im Normalzustand in ihrem Schneckenhaus befinden, nur um bei einem Zuviel an Eindrücken und Reizen nicht völlig den Verstand zu verlieren. Smalltalk ist für diese Menschen ein Graus, größere Gesellschaften sind anstrengend und fordern zu viel Konzentration und Aufmerksamkeit. Ein Zuviel an Reizen führt zu Überreizung, Überstimulierung und zu Stress, der nicht einfach so abgebaut werden kann, zumindest nicht in der akuten Situation. Der Strudel ist perfekt.

„Die Welt ist ein verwirrender Ort“, sagt Frau Neubronner, „wenn so viele Reize mehr verarbeitet werden müssen“

Maßnahmen zur Abwendung drohender Überstimulierung und Stressabbau

Sie rät, lieber eine ruhige, reizarme Umgebung zu schaffen, und darauf zu vertrauen, dass der Rest schon von ganz alleine käme. Das Gehirn entwickelt sich langsam, über die Jahre. Es lernt, mit diesem Filter umzugehen und auch mit den Dingen, die letztendlich bei ihm ankommen. Hochsensible Kinder bräuchten eigentlich nur eines: Zeit. Und Ruhe, vielleicht noch. Denn auch wenn sie länger bräuchten als andere Kinder, sei das okay. Vor allem die Eltern müssen lernen, diese Tatsache auszuhalten, denn ändern könne man sie nicht. Auch nicht mit Trainings, Gewalt oder Druck – eher erreiche man damit das Gegenteil.

In einer konstant ruhigen und reizarmen Umgebung können Eindrücke besser verarbeitet werden.

„Im Schulalltag, jeden Tag 6-8 Stunden… das kann ein hochsensibles Kind nur überleben, wenn es innerlich in ein Schneckenhaus geht. Dann kann es aber dem Unterricht nicht folgen, sondern nur überleben. Doch heraus kommen, sich entfalten, seine Fühler ausstrecken, das geht nur in einer ruhigen Umgebung“, sagt Dagmar Neubronner.

 

Strukturen, Rituale und strikt am Plan festhalten!

Hochsensible Kinder (und Erwachsene) haben, so berichtet sie weiter, ein höheres Maß an Ordnungsliebe, bevorzugen klare Strukturen, wissen gerne vorher, was passiert. Sie können es kaum ertragen, wenn etwas anders abläuft, als angekündigt. Dagmar Neubronner schlägt eine Methodik vor, die sie selbst bei ihren Kindern angewandt habe:

  1. Einen Plan ankündigen und sich daran halten
  2. Kind wenige Minuten vor Beginn der Umsetzung ansprechen, darauf vorbereiten. Also zum Beispiel: „Wenn ich das nächste Mal ins Zimmer komme, dann ziehen wir deine Schuhe an!“
  3. Direkte Ansprache! Wenn das Kind sich im Obergeschoss aufhält, dann nicht die Treppe rauf rufen, es solle nun kommen, sondern rauf gehen, das Kind direkt ansprechen und auch durchsprechen, was die nächsten Schritte sind.

Eltern, die sie in ihrem Neufeld-Institut aufsuchen, berichteten häufig davon, dass sie genervt seien, ihrem Kind ständig eine „Extra Einladung“ machen zu müssen, dass es nicht „einfach mitmachte“. Und sie bejaht:

„Ja! Genau das ist es! Denn es ist überwältigt mit dem, was da auf es einstürzt, dass es vieles nicht mitkriegt, nicht versteht, erst durchdenken möchte, bevor es zur Umsetzung kommt!“

Ihr eigener Sohn sei als Kind ständig verloren gegangen. Und auch sie habe sich damals geärgert, dass er nicht einfach aufpassen und mit ihr mit laufen könne. Leider wird dieser Vorwurf einem hochsensiblen Menschen kaum gerecht. Denn die Wahrheit ist, dass er die ganze Zeit sehr genau aufpasste und tatsächlich alles um ihn herum sehr genau wahr nahm. Dann noch zusätzlich auf die Mutter zu achten und ihr zu folgen, das fiel zu schwer und war zu viel. Diese Tatsache nun negativ zu werten, vielleicht sogar als Ungehorsam, wäre schlicht unfair. Sie verweist auf Mozart, als Beispiel, der sozial vollkommen ausgegliedert war, der aber eine Leistung erbracht hatte, für die seine hohe Sensitivität ein Segen war.

Wenn Menschen, die sehr fein wahrnehmen und sehr viel aufnehmen, zwangsläufig scheitern – oder „gescheitert werden“, weil sie im Alltag nicht funktionieren – zu Rebellen werden oder durch das System fallen – stimmt dann was mit den Menschen nicht oder mit dem System?

Bestmögliche Bedingungen und Ausgleich für das Kind schaffen

 

Sie empfiehlt: wenn die Möglichkeit bestünde, die Schule zu ersparen, würde sie dies allen Eltern hochsensibler Kinder raten. Die Umsetzung ist kompliziert, gerade in Deutschland,  daher denkt sie weiter und rät, eine ruhige und reizarme Schule zu suchen, wenn die Möglichkeit des Freilernens ausbleibt. Kleine Klassen, konstante Lehrer, Bezugspersonen und Ruhe. Und sollte auch dies nicht möglich sein, so sieht sie es als unerlässlich an, dem Kind einen Ausgleich zur Überlastung zu bieten.

Das können verschiedene Möglichkeiten sein: ein Drehstuhl, auf dem das Kind sich allein und in seinem Tempo drehen kann, ein großes oder kleines Trampolin, eine strukturierte Umgebung, ein plätschernder Brunnen – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die Hauptsache ist, dem Kind einen Weg anzubieten, die Überforderung und den damit verbundenen Stress, irgendwo abzubauen. Und immer wieder erinnert sie an den lauten Kopfhörer, der Vergleich, den sie im früheren Teil des Interviews gezogen hatte. Eine Überreizung zusätzlich zu dem eigenen, lauten Kopf, ist niemals angenehm für ein Kind, schon gar nicht für ein hochsensibles. So dürfe man nicht in den Gedanken verfallen, das Kind müsse dies oder jenes jetzt können, schließlich sei es ja nun auch so und so alt. Sie winkt schlichtweg ab und betont: es kann es nicht, auch nicht, wenn es selbst oder die Eltern es so gern möchten. Nicht Training ist der Schlüssel zum Erfolg, sondern der Raum, den Eltern schaffen müssen, um den Kind die Zeit und die Möglichkeit zu geben, zu reifen und damit das Gehirn langsam lernen kann, mit seinem Filter, der schlechter funktioniert als der anderer, gleichaltriger Kinder, umzugehen.

Wichtig ist zu verstehen, dass das hochsensible Kind seine gesamte Intelligenz nie voll wird entfalten können, wenn die Bedingungen nicht stimmen. Daher sei es, so Neubronner, an der Zeit, nun alle Vorurteile wie „Das Kind soll sich nicht so anstellen!“ und „Mit dem Kind stimmt doch etwas nicht!“ endlich aufzulösen. Denn je mehr Möglichkeiten das Gehirn habe, sich zu entspannen, um so besser wird es sich entwickeln können. Es sei daher ratsam, das Kind nicht so früh wie möglich in Betreuungsinstitutionen zu geben, sofern die Möglichkeit bestünde, sondern vielleicht lieber zu warten. Eher zu kleinen Gruppen zu tendieren, als zu großen. Eher zu einer Tagesmutter, als zur Kita. Eher zu kurzen Tagen, als zu langen.

 

Herausforderungen des Alltags

Dabei bezieht sie sich nicht nur auf außerfamiliäre Betreuung und Schule des hochsensiblen Kindes sondern auch auf vermeintlich einfache Dinge im Alltag: Essen zum Beispiel kann für das hochsensible Kind ein ungeahntes Wagnis ein. Es schmeckt intensiver als wir und andere Kinder, empfindet Gewürze und Schärfe extremer. Essen sollte kein Kampfthema werden, niemals mit Druck umgesetzt werden. Sie empfiehlt, das Kind eher zu ermutigen, sich zu trauen und Vertrauen zu pflanzen. Auf die fehlende Bereitschaft, ein Essen zu probieren, habe sie prinzipiell mit Verständnis reagiert: „Macht nichts! Wenn du älter wirst, wird dir das schon schmecken!“ Das ist weder Erpressung noch eine Lüge, denn tatsächlich sind Geschmacksnerven trainierbar und entwickeln sich mit der Zeit. Das ist der Grund, weshalb ein guter Rotwein eher älteren Menschen als jüngeren schmeckt. Es gibt hochsensible Kinder, denen die Naht in den Socken so wehtut, dass sie es nicht ertragen können, denen fremde Gerüche buchstäblich Kopfschmerzen bereiten, die laute, unbekannte Geräusche in den Wahnsinn treiben. All diese Informationen sammelt man nicht in einer kurzen Zeit. Vielmehr reift man gemeinsam mit dem Kind und tastet sich an die alltäglichen Herausforderungen heran. Mit der Zeit, die ein hochsensibles Kind zum Reifen benötigt, entwickelt sich nicht nur das Wissen über potenzielle Stressauslöser sondern auch Strategien, sie zu bewältigen. Der Mensch liebt Dinge, die verlässlich sind und diese Angewohnheit haben normalsensible Menschen mit hochsensiblen gleich. Mit dem Unterschied, dass das hochsensible Kind sich nicht so schnell trauen kann, ein Wagnis einzugehen, weil die Konsequenzen härter sind, als für andere.

 

Die Rolle der Eltern

Im letzten Teil des Interviews berühren mich Dagmar Neubronners Worte ganz besonders, denn sie spricht über die Rolle der Eltern als „Puffer“ zwischen dem Kind und dem Rest der Welt. Die Ansprüche unserer Gesellschaft seien hoch und universell und führten automatisch dazu, einem hochsensiblen Kind den Raum für die vielen, schlecht zu filternden Reize, abzusprechen und es möglichst schnell möglichst passend zu formen. Doch entscheidend seien hier die Eltern, die die Umwelt, die Lehrer, die Erzieher oder auch Familienmitglieder für die feine Wahrnehmung und zarten Emotionen des hochsensiblen Kindes „schulen“ müssten und es so vielleicht ermöglichen können, ein neues Verständnis für die Aufmerksamkeitsprobleme des Kindes zu erschaffen, anstatt es in Sparten und Ecken zu drängen, in die es nicht gehört.

 

Fazit

Hochsensibilität ist keine Krankheit, mein Kind ist nicht anders als andere, es ist einfach nur sensibler und empfindsamer. Doch es klettert genauso auf die Rutsche, es spielt genauso im Sand, es ist lediglich seine Art, mit Eindrücken und Reizen umzugehen und teilweise sehr viel stärker darunter zu leiden, als es nun mal andere tun. Ich wünsche mir für ihn einen Weg, der weder Sonderschule noch Psychiatrie bedeutet aber vor allem auch für ihn, nicht leiden zu müssen, nicht qualvoll durchhalten zu müssen, obwohl er es nicht aushält, bestärkt anstatt entmutigt zu werden, seine Gefühle als sein gutes Recht zu verstehen und nicht als Fluch.

Ich danke Frau Neubronner für ihren wunderbaren Vortrag und ihr umfangreiches Wissen, für ihre unaufgeregte, liebevolle Art von der Hochsensibilität zu sprechen und mich so zu ermutigen, meine Rolle als Mutter als positive Herausforderung anzunehmen. Ich habe viele faszinierende Ansätze bekommen und viel gelernt. Das Interview hat mir geholfen, neue Strategien zu entwickeln und Fehler der Vergangenheit auszumerzen.

Vielen Dank außerdem an Lena und Camillo, die Initiatoren des Hochsensibilitätskongresses, die mir genehmigt haben, die Zusammenfassung des Interviews hier auf meinem Blog zu veröffentlichen.

Wer nun Interesse hat, das gesamte Interview mit Dagmar Neubronner zu sehen, der kann das Kongreß-Paket HIER erwerben.

 

Weiterführende Links zum Thema:

Hier auf dem Blog:

„Empfindsam erziehen“ von Julie Leuze. Buchrezension

„Mein hochsensibles Kind“ – ein Blick in die Welt meines Kindes

„Nur einen Tag in meinen Schuhen“ – ein Blick in die Welt einer hochsensiblen Mutter

 

Dagmar Neubronner:

Website und Blog: www.dagmarneubronner.de

Neufeld-Insitute, Vorträge, Seminare, Publikationen und YouTube Kanal

 

Hochsensibilität:

Rolf Sellin – Ist Ihr Kind hochsensibel?

Kontakte, Anlaufstellen und Beratung nach Postleitzahlen

Zart Besaitet (Test für Erwachsene und ältere Kinder)

 

Literatur (Affiliate Links):

Dagmar Neubronner: Das Handbuch für Hochsensible: Ein Arbeitsbuch für die optimale Nutzung der Gabe Hochsensitivität

Britta Karres: Komm raus, ich seh dich!: Von Glück, Selbstwirksamkeit und Wachsen hochsensibler und hochbegabter Kinder

Elaine N. Aron: Das hochsensible Kind: Wie Sie auf die besonderen Schwächen und Bedürfnisse Ihres Kindes eingehen

Rolf Sellin: Mein Kind ist hochsensibel – was tun?: Wie Sie es verstehen, stärken und fördern

Arne Salig: Der Regen kämpft mit meiner Fröhlichkeit: Die Seele des hochsensiblen Kindes

 

Blogger zum Thema Hochsensible Kinder:

Verflixter Alltag: „Sind meine Kinder hochsensibel?“

Frühlingskindermama: Mein Kind ist hochsensibel – was tun?

Bis einer heult (Daily Pia): Alle Beiträge mit Tag „Hochsensibel“

WELOVEFAMILY.at: Brief eines hochsensiblen Kindes

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