Eines Tages legte ich ein weißes Blatt auf den Tisch, es war nach einem Streit mit meinem Mann gewesen. In sämtlichen Ratgebern der letzten Jahre hatte ich gelesen, dass es nichts brächte, sich auf die negativen Dinge zu konzentrieren, sondern viel eher, die vielen positiven Gefühle zu benennen. Das hatte ich nun monatelang hart trainiert und dabei jeden Anflug von schlechter Laune und Missmut unterdrückt. Authentisch fühlte sich das nicht an – und gebracht hat es auch nichts. An jenem Tag also stritten wir wieder wahnsinnig emotional und ich hatte die buchstäblichen Faxen dicke. Auf das Blatt schrieb ich in die Mitte „Ich hasse“ und machte eine Mindmap daraus. Um diese zwei harten Worte in der Mitte schrieb ich alles auf, was mich zur Weißglut trieb und umrahmte alles mit einem Kreis. Das große Bild aus gemalten Kringeln füllte das Blatt komplett aus, bis es keine freie Ecke mehr gab.
Ich hielt das Blatt hoch und schaute mir an, was es alles zu hassen gab. Dann drehte ich es um und versuchte, die positiven Dinge zu finden. Nicht nur fiel mir das viel schwerer, es fühlte sich auch an, als würde der Engel auf meiner Schulter mir das zugeflüstert haben und nicht so, als wäre es tatsächlich mein inneres Bedürfnis, mich jetzt gerade an Gutes zu erinnern.
Ich brach das Experiment nach wenigen Worten ab, einige strich ich noch durch. Dann seufzte ich und faltete es zusammen.
Anspannung – Entspannung
Ich spürte Erleichterung. Das Krickelakrack auf meinem Din-A4-Blatt war meilenweit entfernt davon, gewaltfrei zu sein. Es war herablassend und verletzend. Es half niemandem, brachte keinen Mehrwert und stellte die völlig falschen Dinge in den Fokus. Aber ich war erleichtert, nach so vielen Wochen, in denen ich mein Genervtsein und meine Anspannung eingesperrt hatte, endlich mal sagen zu dürfen, wo der Schuh drückt. Ich ließ den Zettel zusammen gefaltet liegen und verließ den Raum.
Als mein Mann wieder kam, überreichte ich ihm das Blatt und bat, laut vorzulesen. Er schluckte und begann mit „Ich hasse….“. „Fremdbestimmt zu sein“ war glaube ich das erste, was er vorlas. Und ich nickte. Doch je mehr Worte er aufzählte, umso falscher fühlte sich das an. „Hass“ war plötzlich nicht mehr das richtige Wort. Es war mehr ein „Es stresst mich“ oder ein „Ich bin angespannt weil“ oder ein „Ich möchte ungern, dass…“. Jetzt, wo ich meinen inneren Karton einmal hatte ausleeren und sortieren dürfen und durch das Wegschmeißen des Ballasts hatte Erleichterung spüren können, sah die Welt schon wieder ganz anders aus.
Was „Jetzt fang nicht wieder an zu heulen!“ mit dir macht
Diese wahnsinnig wirksamen Strategien berühmter Psychotherapeuten/-innen und Psychologen/-innen mögen ja alle ihre Berechtigung haben und ich möchte mich jetzt mit meinem kleinen süßen Blog auch nicht hinstellen und so tun, als wäre die „Ich find alles total scheisse“-Strategie die bessere, aber sie ist nicht minder wichtig. Unsere Generation und Gesellschaft kann viele Dinge eben auch nicht besonders gut. Zum Beispiel ist sie zu schnelllebig und leistungsorientiert, um Menschen, die sich mit Emotionen länger beladen (müssen) als andere, den Raum zu geben, das eben auch zu tun, wenn es nötig ist. Und dennoch ist es ein Verarbeitungsprozess, der unerlässlich ist. Unsere Gesellschaft wünscht sich, dass es für Emotionen einen „An“- und „Aus“- Schalter gibt, damit du dich, während du zum Beispiel sowas überlebenswichtiges wie deine Steuererklärung machst, nicht von Gefühlsduseleien ablenken lässt. Wo kämen wir da nur hin, die Erklärung einen Tag später abzugeben, weil dich ein Streit mit deiner besten Freundin heute so sehr aus der Konzentration gerissen hat, dass du schlicht nicht rechnen kannst?
„Jetzt fang‘ nicht schon wieder an zu heulen!“, „Stell dich nicht so an!“ und auch „Reiß‘ dich zusammen!“ erreichen genau eine Sache, nämlich: dass du verlernst, dich selbst zu spüren. Sie unterdrücken Emotionen, sperren sie weg und wollen sie konservieren für einen Zeitpunkt, an dem es vermeintlich besser passt, als jetzt. Aber dieser „bessere“ Zeitpunkt ist dann vielleicht einer, in dem du dich nicht mehr so fühlst, revidierst, abschwächst. Dein Gemüt verlernt zu erkennen, wann es jetzt eigentlich was ist. Alles was du trainierst ist, Gefühle einzusperren und dich eben zusammen zu reißen, weil das was du in dieser Sekunde bist, nicht passt.
Sich selbst erspüren
Meine Theorie aber ist, dass du nur dann ein echtes Mitspracherecht über deine Impulsivität und das Ausleben deiner Gefühle erlangst, wenn du sie erspüren kannst. Gehen wir zurück zum oben genannten Beispiel: was wäre gewesen, wenn ich in all den Wochen zuvor nicht „krampfhaft“ versucht hätte, meine Wut und meinen Stress wegzusperren, weil er sich nicht gehört und der Fokus auf den rosa Wolken liegen soll? Vielleicht hätte ich schon viel eher angesprochen, dass mich etwas stört, dass ich unzufrieden bin und dass wir eine Lösung finden müssen, anstatt meinem Mann in geballter Ladung vor den Latz zu knallen, was ich alles „hasse“. Was das mit meinem Mann machte, kann man sich an dieser Stelle ja auch denken. Genau, Verletzung nämlich.
Aber das Recht, auch meine negativen Gefühle zu erkennen, wahrzunehmen und irgendwie zu handeln, hatte ich mir – um mich zusammen zu reißen, im Griff zu haben und nicht so anzustellen – selbst genommen. Und die Fähigkeit, mich selbst zu erspüren, damit auch.
Deine Gefühle sind dein gutes Recht!
Anstatt mir und anderen und vor allem meinen Kindern nun also ihr natürliches Recht auf ihre Gefühle mit Sätzen wie den oben genannten zu nehmen, verkneife ich sie mir und erinnere mich immer und immer wieder daran, dass sie alle ein R E C H T sind. Ein gutes Recht, das jeder von uns besitzt. Weinen und Trauer, Wut und Rummeckern, Stress und jammern – nichts ist es je Wert, eingesperrt zu werden. Tatsächlich glaube ich ganz fest daran, dass sie gefährlicher werden, wenn sie hinter Gittern müssen.
Für dich und deine Familie kann das Mantra „Meine Gefühle sind mein gutes Recht!“ sehr bereichernd sein. Es nimmt nämlich grade den negativen Gefühlen auch ihre Schwere. Selbstverständlich ist dies kein Plädoyer dafür, ab sofort jedes Mal deine Kinder oder deinen Mann anzuschreien, wenn dir danach ist – absolut das Gegenteil! Viel mehr soll es dir helfen, deine Gefühle in ihrer Entstehung, in ihrer Keimung, in ihrem ersten Aufflammen zu erspüren und mit ihnen zu machen, was dir und deiner Familie hilft. Erspüre deinen Stress und benenne ihn – nur dann kann dein Mann wissen, dass du eine Pause brauchst. Spüre deine Wut und benenne sie – nur dann weiß dein Kind, woran es ist und es hilft euch für die Zukunft so viel mehr, als lautes Schreien, Toben, Weinen und Ausflippen. Schau einmal hinein in deine Trauer und lerne wertzuschätzen, wie gut es deiner Seele tut, einmal tief zu seufzen oder einige Minuten zu Weinen. Tränen sind ein ausgeklügeltes, kluges Instrument deines Körpers, um Stresshormone einfach herauszuspülen. Dafür sind sie da – wieso also solltest du sie unterdrücken? Und für wen solltest du dich zusammen reißen, wenn doch deine Gefühle die tatsächliche Verbindung zu dir und zu deinen Mitmenschen sind?
Trau‘ dich, emotional zu sein
Gerade als hochsensibler Mensch werden dich verletzende Imperative deiner Umwelt schon lange begleiten. Du kennst sie und bist darauf vorbereitet. Auf „Reiß dich zusammen!“ hast du gelernt, nicht noch emotionaler zu reagieren, um nicht wieder in eine Ecke gestellt zu sein. Diesen Zustand findest du erdrückend und ermüdend. Und du hast dir bestimmt mindestens genau so viel Mühe gegeben, wie ich, damit deine Reaktion darauf nicht auch noch „zickig“ ist.
Nun, die Wahrheit ist, dass deine Gefühle nicht nur dein gutes Recht sind, sondern obendrein auch noch deine allerbeste Fähigkeit. Denn gerade du als hochsensibler Mensch hast überdurchschnittlich feine Antennen. Du kannst Emotionen und Stimmungen scannen und sie aufsaugen wie einen Schwamm. Das ist manchmal eine schwere Last aber gleichermaßen auch eine große Bereicherung für deine Umwelt! Wer von dir verlangt, sich zusammen zu reißen, der hat es vielleicht selbst viele Jahre tun müssen und möglicherweise nie eine andere Handlung gelernt. Das ist nicht dein Problem, oder? Richtig. Genau das ist der Punkt: es ist nicht dein Problem. Denn deine Gefühle sind dein gutes Recht und sie alle haben ihren Platz.
Sie sind die Komponente, die unsere Welt dringend braucht und die wir niemals einsperren sollten. Wir können lernen, uns zu spüren und anderen so automatisch auch den Raum zu geben, sich und ihre Gefühle authentisch zu äußern.
Darum wünsche ich mir, dass wir alle uns viel häufiger trauten, emotional zu reagieren. Dann nämlich – und ich glaube nur dann – hätte unsere Gesellschaft überhaupt eine realistische Chance, zu lernen, mit Emotionalität umzugehen. Reißt euch weniger zusammen, bitte.
Wir sind viele.
Euer Hippie. 🙂
5 Antworten
Spannend.
Vor Allem, weil es mir nie einfallen würde, meinem Kind zu sagen, es solle sich zusammenreißen. Nein.
Im krassen Gegensatz dazu nervt mich MEINE Hochsensibilität enorm. Manchmal ist es nützlich. Meistens stört es mich allerdings enorm, immer so tief in emotionale Situationen, Momente und Menschen einzusteigen. Ich wär wirklich gern in der Lage, mich ‚zusammenzureißen‘.
Was ist da wohl schief gelaufen? 😀
Ich hoffe, dass ich dabei bleiben kann, mein Kind offen emotional sein zu lassen, wann immer nötig. Denn du hast so Recht: Es ist eigentlich wichtig und richtig (Herz über Kopf).
Liebe Grüße,
Tamara
Toller Artikel, danke dafür. Mein Sohn (3 3/4) hat zur Zeit mit vielen einschneidenden Veränderungen zu kämpfen und gerät vielleicht auch deshalb gerade öfter mal ins Zetern und Brüllen… Ich versuche ihn da immer anzunehmen – solange ich meine Grenzen nicht überschritten fühle – und möglichst nichts zu sagen, was ihn verunsichern oder in seiner Integrität verletzen würde.
Im Auto sagte er dann letzte Woche wie aus dem Nichts heraus :“Mama, heutzutage mag ich oft ganz schön gerne schimpfen.“
Und tatsächlich, ich glaube was er sagen wollte, war dass es für ihn gar nicht so schlimm ist, wenn er sich so aufregt. Er lebt das Gefühl und den Ausdruck einfach volle Kanne aus das
fand ich sehr berührend und bereichernd. 🙂
Huhu,
hier mein Artikel passend dazu.
https://januarmami.wordpress.com/2017/04/06/stell-dich-doch-nicht-so-an/
Meine Hochsensibilität führt zuhause auch ziemlich oft zu Reibungspunkten, weil mein Mann so gar nicht wirklich sensibel ist und in einer absoluten „reiss Dich mal zusammen“-Mentalität aufgewachsen ist. Für ihn stellen die Kinder und ich uns immer total an, überdramatisieren alles und nehmen alles viel zu ernst, statt einfach damit zu leben und gut. Der Grundton ist daher ziemlich rau, zu meinem Leidwesen.
[…] zum Thema “Reiss dich mal zusammen” und darüber, dass Gefühle total legitim sind. (hier zu lesen) Der Beitrag gefiel mir, ich hatte dazu auch schon mal etwas geschrieben unter dem Motto […]
Bei Hochsensibilität ist der Spruch: „Was du nicht willst, das man dir tu- das füg auch keinem andren zu!“ verheerend, zumal wenn er einem als Kind schon eingebläut wurde. Ich spüre mich überstark, ich spüre den anderen überstark, ich habe keine Filtermöglichkeiten.
Wie soll ich dann meine Wut zeigen können- da die Wut, die der andere mir zeigt, mich bis in’s Mark trifft?
Mit diesem Spruch, im Inneren tief verankert, geht garnichts!
Ein Teufelskreis!
Könnt ihr das verstehen oder klingt es etwas wirr? :))