Wachstumsscherzen oder: Warum das Chaos immer auch einen Neuanfang bringt

Bubba Ray versucht, mit zu einer Pinzette geformten Fingern, ein Teil seines aus Plastik bestehenden Bauteilsortiments (keine Werbung) aus dem mit viel Mühe selbst gebauten Roboter zu fummeln. Seine Stirn hat er krausgezogen, in der Mitte, direkt über der Nase, formt sich eine tiefe Sorgenfalte. Er ist hoch konzentriert und sichtlich angestrengt. Das Ziel ist, an dieses Teil heranzukommen, ohne den ganzen Roboter zu zerstören und ich komme schon beim Zuschauen ins Schwitzen. Bitte wie soll das gehen? Dieses eine Teil, das es unbedingt sein soll, sitzt mittendrin, fest verbaut, gut umschlossen von mehreren anderen Teilen. Es hat seinen Platz – und wenn er es löst, so ahne ich in vorauseilendem Pessimismus, wird das Ding doch eh in tausend Teile zerfallen. Doch Bubba Ray gibt nicht auf. Er braucht das Teil für ein neues Bauprojekt und der Plan steht. Es vergehen Minuten damit, dass er etwas versucht zu lösen, was nicht nur unfassbar kompliziert ist – sondern ehrlich gesagt nach einer unlösbaren Aufgabe aussieht.

 

Kluge erwachsene Sprüche.

„Hast du dieses oder ein vergleichbares Teil nicht in deiner großen Kiste?“, frage ich ihn. Er knurrt. Nein, habe er nicht und ich solle ihn auch in Ruhe weiter fummeln lassen. Ich halte den Mund und sehe zu. Ja, ich muss mich arg zusammenreißen, ihm nicht die ganze Bandbreite an kluger, erwachsener Sprüche an den Kopf zu hauen. So etwas wie „Geht halt nicht!“ oder „Kannst du denn nicht etwas anderes bauen?“ oder „Wieso muss es denn überhaupt ein neuer Roboter sein? Schau mal, du hast doch so einen schönen. Sei doch einfach zufrieden mit dem, was du hast!“ Ja, eben, soll er doch dankbar sein! Und überhaupt, wozu denn der Aufwand? Tagelang hat er an diesem Exemplar gebaut und nun will er es nicht mehr bespielen? Er möchte ein neues?

Doch anstatt ihn mit meiner erwachsenen Logik zu belasten, halte ich einfach die Klappe und schaue weiter geduldig dabei zu, wie mein kleiner Junge nicht aufgibt. Seine Finger greifen aus einer immer wieder wechselnden Richtung an, probieren es mal links, mal rechts, lösen sich, hier und da lässt er einen lauten Seufzer los und blickt einige Sekunden auf das Teil. „Scheisse“, sagt er. „Was mache ich jetzt nur“, grübelt er. Und da erkenne ich, worum es ihm wirklich geht.

 

"Solange wir für den konstanten Fluss an lebendiger Energie offen sind, entwickeln wir uns im Kreislauf von Neuanfang - Stabilität - Chaos - Zusammenbruch - Neuanfang weiter" - Veit Lindau

„Solange wir für den konstanten Fluss an lebendiger Energie offen sind, entwickeln wir uns im Kreislauf von Neuanfang – Stabilität – Chaos – Zusammenbruch – Neuanfang weiter“ – Veit Lindau

 

Chaos, Zerstörung – Wiederaufbau, Neuanfang

Bubba Ray könnte diesen Roboter weiter nutzen, könnte sicherlich weiterhin die gleichen Spiele spielen. Er könnte auch mit diesem einen Drachen dort spielen, der mit dem einen Kopf. Doch erst kürzlich hatte er beschlossen, dass es jetzt bitte der mit den vier Köpfen sein soll. Und ich denke an D-Von, der natürlich weiterhin auf meinen alten Kochtöpfen sein Schlagzeug proben könnte. Er könnte das tun, ja. Aber er wollte es nicht mehr. Nein, er wollte den Klang echter Trommeln hören, wollte spüren wie es ist, wenn die Töne wirklich durch seinen Körper fließen. Und Bubba Ray, der nun beginnt, sich andere Lösungswege auszudenken, um an sein begehrtes Teil zu kommen, hat nichts weiter als ein größeres Projekt im Kopf. Ja, er könnte einfach so weitermachen wie bisher – aber er will nicht. Er will mehr.

Nach ungefähr 20 Minuten, Diskussionen, einigen Tränen und Wut sieht er ein, dass er an dieses Teil nicht herankommt, ohne sein früheres Werk wirklich zu zerstören. Er tröstet sich und wir ihn, er fühlt seine Gefühle und… bricht dann auf zu neuen Ufern. Mit dem Mut der Verzweiflung baut er schrittweise auseinander, was er so mühselig erschaffen hat. Das ist hart, es kostet ihn Überwindung und Kraft und es fließt noch die eine oder andere Träne – doch seinem Wunsch, etwas „besseres“ zu haben, endlich mit diesem neuen Projekt zu spielen, das er in seiner Fantasie schon zum Leben erweckt hat… nein, daran führt nun kein Weg mehr vorbei. Die losen Teile bilden heilloses Durcheinander, doch endlich taucht das ersehnte Stück in seinen Fingern auf. Er setzt es an die Stelle, an der es gebraucht wird, es passt – und im Flow, der nun entsteht, erwacht Schritt für Schritt vor unseren gemeinsamen Augen etwas, das ich vor wenigen Minuten noch als „unmöglich“ eingestuft hätte. „Erwachsene“, die ich bin.

 

Warum es gar nicht so „erwachsen“ ist, auf das Chaos zu verzichten

Nicht selten sehe ich meinen Kindern bei vermeintlich alltäglichen Dingen zu und erkenne, wie sie ganz spielerisch Qualitäten zeigen, die ich mir als „Erwachsene“ mit ganzer Kraft erarbeiten muss. Ich muss Schicht um Schicht abtragen, um wieder an sie heranzukommen – wie zum Beispiel die Fähigkeit, Chaos auszuhalten, es als einen wichtigen Baustein für meine Entwicklung anzusehen und zu verstehen, dass mit dem Verändern eines winzig kleinen Teils möglicherweise etwas ganz und gar Neues erwachsen kann. Und, dass Veränderung immer möglich ist und uns Abschiedsschmerz nicht aufhalten sollte, neue Wege einzuschlagen, um das was wir als „besser“ empfinden auch wirklich wahr werden zu lassen.

Es ist vermeintlich erwachsen, ein sortiertes und strukturiertes Leben zu führen und es mag anderen Menschen auch imponieren, wenn dein Leben konstant verläuft – aber hey, wessen Leben verläuft denn schon wirklich so? Während mein Bubba Ray mir zeigt, wie das geht, an Fantasie, einem Traum, Wunsch, an Hoffnung festzuhalten und alles dafür zu tun, um dies in die Tat umzusetzen, schaue ich zurück auf meine Biografie. An all meine Krisen, an einfach jedes einzelne Mal, an dem mein Leben „zerstört“ wurde und ich mich im totalen Chaos wiederfand. Und ich weiß, dass es jedes Mal ein unbändiger Akt der Resilienzförderung und der Integration ist, nach einer Lebenskrise sagen zu können, dass man dankbar ist für die Dinge, die sie einem gelehrt hat – na klar! Und ja, auch ich wünschte, es wäre möglich, mit einer kleinen Zange einfach dieses Teil da raus zu operieren, um es woanders einzusetzen und nichts ginge jemals kaputt. Nun – leider zeigt uns das Leben selbst, dass es genau so niemals läuft.

 

Der Schmerz und das Glück des Neuanfangs: Anfängergeist

Die Achtsamkeit benennt den „Anfängergeist“ als eine Qualität. Denn in ihm liegt die Kraft, sich den vielen, immer wiederkehrenden Neunfängen des Lebens zu stellen und zu wissen, dass nur die Veränderung das Einzige ist, das im Leben eine Konstanz hat. Sie kehrt immer wieder, hält inne, schmeißt alles durcheinander, schüttelt dich durch – und sorgt dafür, dass du etwas neu aufbaust. Manchmal dauert das viele Jahre und manchmal tut das verdammt weh. Aber manchmal ist es ganz genau diese Zerstörung des bisherigen Lebens, die überhaupt erst dafür sorgt, dass du eine neue, viel bessere Version leben darfst.

Und während ich meinem mittlerweile 6-jährigen dabei zusehe, wie er aus eigener Kraft Dinge kreiert, die ich nicht einmal zusammenschrauben kann, wird mir genau dies klar. Denn auch ich hatte einst das Gefühl, mein Leben sei zerstört. Ja, tatsächlich war mein Eintritt in meine Mutterrolle alles andere als wundervoll, magisch oder bereichernd. Stattdessen habe ich viele Jahre an diesem einen Teil herumgefummelt – immer in der Hoffnung, ich könnte meinen alten Roboter behalten. Es war der Tag an dem ich einsah, dass ich mich entscheiden müsste, loszulassen und zu empfangen, der alles veränderte. Seitdem friemle ich keine Teile mehr hervor, die weder mir noch ihm jemals dienen könnten – und habe gelernt, mir ein neues Leben aufzubauen. Zusammen mit meiner Familie.

 

Wachstumsschmerzen

Wachstum ist schmerzhaft. Auch das lehren uns unsere Kinder. Wenn die Beine oder Arme einen Zentimeter wachsen sollen, bekommen sie Fieber und weinen die Nächte durch. Und auch für uns Eltern tut es weh, wenn das Kind den Abschiedskuss an der Schule plötzlich peinlich findet oder die Nachmittage lieber mit den Kumpels verbringt. Das Leben ist stete Veränderung! Sie geschieht. Ob wir das gut finden oder nicht. Alles, was wir tun können, ist, zu wählen, ob wir mit ihr in den Neuanfang fließen oder uns gegen sie stellen. Und fummeln, friemeln, verzweifeln, festhalten, klammern und im drohenden Schmerz ersticken.

Stattdessen dürfen wir – und das zeigt uns unser Leben zur aktuellen Situation klarer denn je – uns der Veränderung immer wieder auch hingeben. Vertrauen. Mitgestalten. Kreativ und begeistert Lösungen finden. Loslassen, anstatt hinzuschmeißen. Und neu anfangen, anstatt aufzugeben. Ja, ich hab gut Reden. Weil ich so total Zen bin und ja eh klug scheisse. Naja, aber auch, weil ich glaube. Zum Beispiel daran, dass die Welt sich weiterdrehen will. Dass es weitergehen soll. Und dass wir einen entscheidenden Beitrag dafür leisten, dass unser Leben schon bald so ganz anders aussehen muss als noch vor wenigen Wochen. Corona macht uns allen Angst – mir auch. Weil Veränderung Angst macht und dazu gezwungen zu werden noch viel mehr. Aber jetzt ist sie da, klopft an und zwingt dich dazu, dich zu entscheiden: „Willst du jetzt noch eine Stunde an dem Teil herumfummeln und nicht akzeptieren, dass es weder ein vergleichbares in der Kiste gibt, noch eine andere Lösung, als den Abbau oder können wir einfach endlich anfangen zu tun?“

 

Do not be afraid to begin again. The sun rises each day without shame" - Daren Colbert

Do not be afraid to begin again. The sun rises each day without shame“ – Daren Colbert

 

Leinen los!

Was dieses Tun für dich ist, das entscheidest du. Und es geht auch hier nicht darum, zu irgendetwas aufzurufen. Alles, was ich dir hier lassen möchte ist, dass deine Veränderung, egal wie groß oder klein sie sein mag, für dich immer wohlwollender, schöner und glücklicher ablaufen wird, wenn du sie umarmst, anstatt sie wieder und wieder abzulehnen. Loslassen und vertrauen, anstatt festzuhalten und immer wieder enttäuscht zu werden.

Denn das ist am Ende die magische, wunderbare und wertvolle Qualität des Anfängergeists, der in jedem Neuanfang steckt. Also – was darf deine Veränderung jetzt für dich bedeuten?

Ich wünsche dir von Herzen einen friedvollen, aufgeschlossenen, authentischen, mutigen und leidenschaftlichen Neuanfang. Jetzt.

Alles Liebe,

Deine Kathrin

 

2 Antworten

  1. Wow Kathrin, unglaublich wertvoll DEINE Worte. Meine Sprache der Liebe ist das geschriebene Wort und du hast mich zutiefst berührt, weil ich spüren kann das deine Worte ihren Ursprung tief in deinem Herzen habe. Ich komme gerade aus einer großen „ZuBettgeh-Krise“ und danke dir für den Impuls des Loslassens, den ich noch nirgends so schön gelesen habe. Schön, dass es dich gibt und deine Liebe zum geschriebenen Wort

    Mama_Flussaufwerts

    • Danke, meine Liebe und ja. Stimmt. Aus der Tiefe meines Herzens, wo alles seinen Ursprung und seinen Sinn hat. Die Freude und das Leid, der Schmerz und die Annahme. Loslassen und Akzeptanz.

      Ich wünsche dir von Herzen alles Liebe.
      Kathrin

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